Pylos und Sphakteria

[100] Im Frühjahr 425 machten die Peloponnesier außer dem regelmäßigen Einfall in Attika, diesmal unter Führung des Agis, der im Jahre 426 dem Archidamos auf dem Thron gefolgt war, einen neuen Versuch, auf Korkyra festen Fuß zu fassen. Die Reste der oligarchischen Partei, etwa 500 Mann, die dem Massaker entkommen waren, hatten sich zunächst auf das Festland geflüchtet, dann aber, verstärkt durch angeworbene Epiroten, in der Gebirgslandschaft Istone im Norden der Insel festgesetzt; von hier aus verwüsteten sie das Land und schnitten der Stadt die Lebensmittel ab, so daß eine arge Teuerung entstand. So durfte die peloponnesische Flotte von 60 Schiffen, die jetzt zu ihrer Unterstützung entsandt ward, sich der Hoffnung hingeben, mit Leichtigkeit eine Gegenrevolution herbeizuführen. Um ihnen entgegen zu wirken, erhielt die nach Sizilien bestimmte attische Flotte von 40 Schiffen (s.S. 8080), die im April 425 unter Eurymedon und Sophokles, Sohn des Sostratides, in See ging, den Auftrag, unterwegs in Korkyra anzulaufen. Mit ihnen ging Demosthenes, der soeben nach seiner Rückkehr aus Akarnanien wieder zum Strategen gewählt, aber jetzt noch Privatmann war; er hatte die Erlaubnis erhalten, unterwegs die Mannschaft zu einem Handstreich gegen die peloponnesische Küste zu benutzen. Eurymedon und Sophokles freilich drängten vorwärts nach Korkyra; und auch als ein Sturm sie zwang, in der Lagune von Pylos (nördlich von Navarin) an der messenischen Küste Schutz zu suchen, wollten sie von Demosthenes' Plan nichts wissen, die öde Felskuppe zu besetzen und zu befestigen, auf der ehemals Nestors Königsburg gelegen hatte – die Spartaner nannten sie Koryphasion –: »es gebe viele öde Vorgebirge im Peloponnes, wenn er sich da festsetzen und dadurch Athen in Unkosten stürzen wolle«. In der Tat war Demosthenes' Unternehmen bedenklich genug. Allerdings konnte man den Punkt mit leichter Mühe besetzen [100] und befestigen; aber die ganze Küste war öde und menschenleer (s. Bd. IV 1, 440) und so nicht einmal auf einen starken Zulauf flüchtiger Heloten zu rechnen. Ob man sich gegen die Spartaner werde behaupten und mehr erreichen können, als ihnen ein bequemes Angriffsobjekt zu bieten, dessen Verlust, wenn es einmal besetzt war, für Athen eine empfindliche Schlappe bedeutete, war sehr fraglich. Indessen Demosthenes war der Meinung, daß der Punkt doch große Vorteile biete: der Fels hing nur durch eine schmale Landzunge mit dem Festlande zusammen und war leicht zu verteidigen. Dahinter lag eine geschützte Hafenbucht, und von hier konnte man den Kleinkrieg dauernd in das spartanische Land tragen und vielleicht die Heloten Messeniens wieder zum Aufstand bringen99. Die Soldaten selbst, durch den Sturm zur Untätigkeit gezwungen, faßten Zutrauen zu seinem Plan; in sechs Tagen wurden die Stellen, wo der Fels angreifbar war, durch rohe Felsmauern in Verteidigungszustand gesetzt. Demosthenes blieb mit fünf [101] Schiffen zurück und erhielt alsbald noch Zuzug von 40 messenischen Hopliten aus Naupaktos; die übrigen Schiffe fuhren nach Korkyra weiter.

Auf die Kunde von der Besetzung von Pylos zogen die Peloponnesier aus Attika ab, zumal ihnen bereits die Lebensmittel ausgingen; aber mit dem Angriff beeilten sie sich nicht sonderlich, da sie glaubten, den Ort jederzeit ohne Mühe wieder nehmen zu können. Allmählich kam dann ein stärkeres spartanisches Heer zusammen; auch die Flotte wurde von Korkyra abberufen, und es gelang ihr, den inzwischen nach Zakynthos gelangten attischen Schiffen zu entgehen. Jetzt griffen die Spartaner Pylos zu Lande und zur See an, sperrten die Zugänge zum Hafen und besetzten das langgestreckte öde Felseiland Sphakteria im Süden von Pylos (vor der Bucht von Navarin), damit die attische Flotte, wenn sie herbeikäme, hier keinen Stützpunkt finden könne. Aber Demosthenes verlor den Mut nicht; er rüstete die paar hundert Ruderer seiner Schiffe notdürftig aus und besetzte den Felsabhang an der Stelle, wo die Feinde einen Landungsversuch wagen konnten, mit einer Schar von 60 auserlesenen Hopliten und Schützen. Es gelang ihm denn auch, einen Angriff der Flotte zurückzuweisen; trotz aller Tapferkeit konnten die Feinde auf den Klippen des Ufers nicht festen Fuß fassen, so daß sie Vorbereitungen für eine regelrechte Belagerung treffen mußten. Inzwischen aber kam die von Demosthenes schleunigst aus Zakynthos zurückgerufene, auf 50 Schiffe verstärkte attische Flotte heran; und am nächsten Tage gelang es ihr, in beide Einfahrten des Golfes von Navarin einzudringen und die peloponnesische Flotte zu überfallen, während diese noch mit den Vorbereitungen zum Kampf beschäftigt war. Wohl kämpften die Spartaner tapfer um die einzelnen zum Teil noch am Strande liegenden Schiffe; aber ihre Stellung in der Bucht war verloren, die Athener Herren der See und damit die Besatzung auf der Insel abgeschnitten, 420 Hopliten nebst den zugehörigen Heloten, davon nahezu zwei Fünftel Spartiaten. Damit drohte dem Staate ein Verlust, den zu tragen er sich nicht entschließen konnte. Um sie zu retten, blieb der Regierung kein anderes Mittel, als einen Waffenstillstand abzuschließen und Verhandlungen in Athen anzuknüpfen. [102] Die Athener gewährten der Besatzung die Zufuhr des täglichen Bedarfs an Lebensmitteln, natürlich unter scharfer Kontrolle; dafür überließ ihnen Sparta die gesamte Flotte in Pylos und was es sonst an Kriegsschiffen an seinen Küsten besaß, für die Dauer des Waffenstillstandes als Pfand.

So war mit einem Schlage ein völliger Umschwung der Lage eingetreten. Die stolzen Gegner, die sich ihrer Unbesiegbarkeit rühmten und sich vermessen hatten, in wenigen Jahren das attische Reich zu zertrümmern, kamen jetzt, Perikles' Voraussage erfüllend, Friede suchend nach Athen, und zwar, weil sie den drohenden Verlust von wenigen hundert Bürgern nicht ertragen zu können glaubten. Athen, das vor fünf Jahren am Boden zu liegen schien, hatte jetzt die Entscheidung in seiner Hand. Eine glänzende Aussicht bot sich für die Zukunft, wenn es Sparta einen billigen Frieden gewährte. Denn im Vertrauen auf Sparta hatten die Gegner zu den Waffen gegriffen, lediglich der Ruf seiner Unüberwindlichkeit hielt ihren Bund zusammen: wenn es jetzt aus geringfügigem Anlaß so völlig versagte, war die erste Folge, daß Korinth und Theben sich selbst zu helfen suchten oder nach einer anderen Schutzmacht umsahen. Dann wurde Sparta, um seine Stellung zu behaupten, vollends Athen in die Arme getrieben, und dies hatte auf Jahrzehnte hinaus in Griechenland keinen Feind mehr zu fürchten. Das alles war für an politisches Denken gewöhnte Köpfe nicht allzuschwer einzusehen; die zum Frieden geneigten Kreise, Nikias voran, waren ohnehin bereit, zuzugreifen, sobald sich Aussicht auf einen anständigen und ehrlichen Frieden bot. Um so heftiger setzte sich Kleon zur Wehr. Für ihn gab es nur ein Ziel, »Athen die Herrschaft über ganz Hellas zu erobern«; wie durfte man da von Frieden reden, wo die Erreichung des Ziels in naher Aussicht zu stehen schien. In maßloser Überschätzung des momentanen Erfolges sah er in ihm den vollgültigen Beweis von Athens Überlegenheit, während alles, was dem Ereignis von Pylos größere Bedeutung verlieh, doch nur auf dem Zufall beruhte, daß ein spartanisches Korps in hoffnungsloser Lage abgeschnitten war. Er glaubte, Sparta liege bereits am Boden, man dürfe ihm alles zumuten; wenn es sich dessen weigere, zeige es, daß es den Frieden nicht ernstlich wolle. So kam es in der[103] Volksversammlung zu den erregtesten Verhandlungen; schließlich setzte Kleon die Forderung durch, Sparta solle die Besatzung von Sphakteria kriegsgefangen an Athen ausliefern und erst zurückerhalten, wenn es die von Athen im Frieden von 446 abgetretenen Gebiete, Achaia, Trözen und die megarischen Häfen Nisäa und Pagä, zurückgegeben habe; dann wolle man weiter über den Frieden verhandeln. Sparta war so gedemütigt, daß es selbst dies nicht schlechterdings abwies; aber daß man offen auf dem Markte von Athen über die Auslieferung verbündeter Orte an den Feind verhandle, war ein unmögliches Verlangen. So forderten die Gesandten kommissarische Beratung. Da glaubte Kleon sie überführt zu haben: sie hätten keine ehrlichen Absichten, wenn sie insgeheim mit einigen wenigen, statt offen mit dem gesamten Volke verhandeln wollten. Er erreichte, daß die Verhandlungen abgebrochen wurden. In derselben Verblendung wie die Peloponnesier 430 hat Athen die günstigsten Chancen weggeworfen, die sich ihm jemals geboten haben100.

Die Spartaner waren von Athen abgewiesen in dem Glauben, man habe die Besatzung von Sphakteria schon in Händen; aber alsbald zeigte sich, daß das noch keineswegs der Fall war. Zwar gaben die Athener die ihnen überlieferten Schiffe unter fadenscheinigen Vorwänden nicht zurück und begannen aufs neue eine scharfe Blockade. Aber einen Landungsversuch wagten sie nicht, und die Besatzung auszuhungern, war unmöglich, da sich immer wieder Leute fanden, denen es gelang, von den Athenern unbemerkt Lebensmittel hinüberzubringen. So vergingen fast zwei Monate; die Situation wurde für das blockierende Geschwader immer kritischer, zumal es Mangel an Proviant und vor allem an Trinkwasser [104] litt. Die Küste war von den Feinden besetzt, der Felsen von Pylos gewährte keinen Schutz; brach ein heftiger Sturm aus oder kam vollends der Winter heran, so war die Blockade nicht länger zu halten, und die Eingeschlossenen konnten auf Kähnen entkommen. So mußte Demosthenes101 doch dem Gedanken einer Landung und Erstürmung der feindlichen Position nähertreten, und auch seine Soldaten, der Strapazen müde, drängten selbst dazu; ein Waldbrand auf der Insel, hervorgerufen durch eine athenische Abteilung, die an der Spitze zum Abkochen gelandet war, besserte die Aussichten des Kampfes und zeigte zugleich, da man jetzt die große Zahl der Eingeschlossenen erkennen konnte, daß er den Preis lohnte. So zog Demosthenes Truppen von den Bundesgenossen heran, namentlich aus Naupaktos. Vor allem aber brauchte er, das hatte ihn auf ähnlichem Terrain der Feldzug in Ätolien gelehrt, ein größeres Korps von Leichtbewaffneten, und diese konnte er nur aus Athen erhalten, wie denn überhaupt das Unternehmen nur im Einverständnis mit der Leitung daheim durchgeführt werden konnte. Kleon ging mit vollem Eifer auf seine Pläne ein; war er doch ein toter Mann, wenn die Eingeschlossenen entkamen. Er forderte von Nikias, der seit Ende Juli den Vorsitz im Strategenkollegium übernommen hatte, die Erstürmung der Insel; mit genügender Macht sei es ein Leichtes; er selbst würde es ausführen, wenn er Feldherr wäre. Nikias hatte nicht die mindeste Neigung zu einem Unternehmen, das ihm allen Grundsätzen einer richtigen Strategie zu widersprechen schien, zumal nach seiner Auffassung allein die Athener selbst an der jetzigen Notlage schuld waren; mochte denn Kleon ausessen, was er sich eingebrockt hatte. Er forderte ihn auf, an seine Stelle zu treten und sein Wort wahr zu machen. Da half Kleon kein Sträuben mehr; seine Anhänger jubelten, seine Gegner, »die Verständigen«, wie Thukydides sagt, der selbst zu ihnen gehörte, »stimmten eifrig zu, wenn sie auch ein Lachen ankam über seine Renommage, in der Erwägung, entweder würden sie ihn los werden – und das wünschten sie am meisten –, oder wenn sich ihre Rechnung nicht erfüllen sollte, würde er die [105] Spartaner in ihre Gewalt bringen.« So wurde Kleon als außerordentlicher Stratege nach Pylos entsandt. Er nahm, Demosthenes' Angaben entsprechend, außer Mannschaften von Lemnos und Imbros, die in Athen standen, leichtbewaffnete Peltasten aus Änos in Thrakien und 400 Schützen mit; damit, erklärte er, werde er in zwanzig Tagen die Spartaner auf der Insel lebend oder tot in seine Gewalt bringen. Er hat sein Wort wahr gemacht. Am Tage nach seiner Ankunft, nachdem die Spartaner eine Aufforderung zur Kapitulation abgewiesen hatten, ging er mit Demosthenes ans Werk. Kurz vor Tagesanbruch setzten sie an zwei Stellen im Süden der Insel ein Hoplitenkorps von 800 Mann ans Land. Auch bei dem sorgsamsten Postendienst hätten die Spartaner nie verhindern können, daß die Athener sich an einem Punkte der Insel festsetzten und, da sie die See beherrschten, hier allmählich ihre ganze Macht sammelten; aber sie hatten, nachdem die Flotte so lange untätig geblieben war, einen Angriff so wenig erwartet, daß ein Piquet auf dem südlichen Hügel der Insel noch im Nachtlager überfallen werden konnte. Währenddessen wurden die Leichtbewaffneten und Schützen gelandet, im ganzen über 1600 Mann, dazu der größte Teil der Schiffsmannschaft, den man, so gut es gehen mochte, bewaffnet hatte; und nun ließ Demosthenes diese Truppen in kleinen Abteilungen ausschwärmen und von allen Seiten gegen die Höhen vordringen. Dagegen konnten sich die schwergerüsteten Spartaner nicht wehren; sie gerieten in die ärgste Bedrängnis, ähnlich wie Demosthenes im vorigen Jahre in Ätolien, und mußten sich schließlich in die Trümmer eines Kastells auf der steilen Nordspitze der Insel zurückziehen. Hier kam der Kampf eine Zeitlang zum Stehen; als es aber einer Abteilung Schützen und Leichtbewaffneter unter Führung des Hauptmanns der Messenier gelang, den Abhang unbemerkt vom Feinde zu erklimmen und ihm in den Rücken zu fallen, blieb dem Rest, da ihnen der Mut versagte, wie ihre Ahnen bei den Thermopylen bis zum letzten Atemzuge kämpfend zu fallen, nichts übrig, als sich zu ergeben, noch 292 Hopliten, darunter 120 spartiatische Vollbürger102.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 100-106.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Selberlebensbeschreibung

Selberlebensbeschreibung

Schon der Titel, der auch damals kein geläufiges Synonym für »Autobiografie« war, zeigt den skurril humorvollen Stil des Autors Jean Paul, der in den letzten Jahren vor seiner Erblindung seine Jugenderinnerungen aufgeschrieben und in drei »Vorlesungen« angeordnet hat. »Ich bin ein Ich« stellt er dabei selbstbewußt fest.

56 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon