Athenische Kriegspolitik. Bruch mit Sparta

[232] In Athen schalteten seit Alkibiades' Sturz die Führer der radikalen Demokratie unumschränkt wie nie zuvor. Der übermächtige Rivale war beseitigt; Nikias, der einzige, der ihnen einigermaßen das Gleichgewicht zu halten vermocht hätte, stand beim Heer auf Sizilien. Was Kleon und Hyperbolos erstrebt hatten, hatten Peisandros und Androkles207 erreicht: sie beherrschten die Volksversammlung vollständig, die Strategie wurde mit ihren Anhängern besetzt, unter denen Laispodias am meisten hervortritt208. Die Opposition war vollständig machtlos. Die Komödie setzte ihre Angriffe fort: Plato widmete dem Peisandros ein ganzes Stück, wie seine Vorgänger dem Kleon und Hyperbolos; auch Eupolis' Demen mit der Klage über die nichtswürdigen Menschen, die man jetzt zu Strategen wählt (s.S. 98), gehören wahrscheinlich in diese Jahre. [232] Aber Erfolg hatten diese Angriffe noch weniger als früher; vielmehr konnten die Radikalen versuchen, ihnen wie in Perikles' Zeit (Bd. IV 1, 740) Zügel anzulegen; es wurde ein Antrag des Syrakosios angenommen, der die Freiheit der persönlichen Invektive jedenfalls beschränkt hat209.

In der äußeren Politik war jetzt die Zeit gekommen, wo man das von Kleon aufgestellte, von Alkibiades angenommene radikale Programm endlich voll durchführen konnte: schienen doch die Aussichten für eine allseitige zielbewußte Eroberungspolitik so günstig wie möglich. Trotz der langen Zögerung zu Anfang folgte jetzt, wo man energisch gegen Syrakus vorging, eine Siegesbotschaft der anderen; wer konnte noch zweifeln, daß die Stadt binnen kurzem sich ergeben und dann die ganze Insel sich unterwerfen werde. Alle Voraussetzungen des Alkibiades erfüllten sich: es war erwiesen, wie töricht die Bedenklichkeiten des Perikles und der Konservativen gewesen waren, die die wahren Interessen des Staates aus eigennützigen Motiven geopfert, ja verraten hatten. Auch in Thrakien hatte man jetzt wieder Erfolg. Im März 414 ging ein attisches Geschwader unter Euetion nach dem Golf von Therme (Salonik); Perdikkas, durch die Blockade (s.S. 205) empfindlich getroffen und von den Peloponnesiern im Stich gelassen, trat wieder einmal zu Athen zurück. Der Feldzugsplan Kleons ließ sich jetzt verwirklichen; Euetion zog zahlreiche thrakische Scharen an sich und ging gemeinsam mit Perdikkas gegen Amphipolis vor. Freilich gelang es nicht, die Stadt zu nehmen; aber Euetion führte die Schiffe in den Strymon und begann die Belagerung. Auch hier konnte man hoffen, bald am Ziele zu sein210. Ein Versuch, in Thespiä eine Erhebung des athenisch gesinnten Demos gegen Theben herbeizuführen (Frühjahr [233] 414), scheiterte allerdings211. Dagegen bot sich eine Gelegenheit, in Karien die seit dem samischen Kriege stark erschütterte Machtstellung Athens wiederherzustellen212. Hier hatte sich Amorges, ein Bastard des Pissuthnes, des ehemaligen Satrapen von Sardes, gegen den König empört, eine starke peloponnesische Söldnerschar angeworben und sich an Athen um Hilfe gewandt; dies trug kein Bedenken, sie ihm zu gewähren. Daß der Perserkönig die Provokation aufnehmen und den Frieden brechen werde, schien nicht zu befürchten; und sollte er es tun, dann um so besser; dann konnte Athen in seine alten, unter Perikles verlassenen Bahnen einlenken und neben den Eroberungen im Westen auch die im Osten wieder aufnehmen213.

Sparta und die Peloponnesier hatten die neuen Erfolge Athens hingenommen, ohne sich zu rühren. Man erfuhr zwar, daß sie mit der Absicht umgingen, Syrakus Hilfe zu schicken, und um die Mitte des Sommers gingen in der Tat ein paar Schiffe nach Sizilien ab. Aber was konnten die Peloponnesier zur See gegen Athen ausrichten, und wie wäre es möglich, daß sie der siegreichen Armee auf Sizilien irgendwie ernstlich Schaden tun könnten? Gegen Argos waren die Spartaner im Frühjahr 414 wieder einmal vorgerückt, aber in gewohnter Weise infolge eines Erdbebens umgekehrt, und darauf hatten die Argiver das thyreatische Küstengebiet weithin verwüstet und große Beute fortgeführt, ohne Widerstand zu finden. Offenbar waren die Spartaner völlig eingeschüchtert und reif für den entscheidenden Schlag; es galt auch hier ein Ende zu machen und ihnen den Krieg aufzuzwingen, den wieder zu beginnen sie sich trotz aller Provokationen nicht entschließen konnten. Bisher hatten [234] alle Bitten der Argiver Athen nicht dazu bringen können, sich an einem Angriff auf lakonisches Gebiet zu beteiligen; als aber im Hochsommer 414 die Spartaner mit dem Bundesheer endlich ihren Einfall ausführten und das Gebiet von Argos verheerten, griff die athenische Flotte von 30 Schiffen unter Pythodoros (schwerlich dem verurteilten Feldherrn aus der ersten sizilischen Expedition214), Laispodias und Demaratos die lakonischen Küstenorte Prasiä und Epidauros Limera (jetzt Monemwasia) an und plünderte das umliegende Land. Weitere Bedeutung für den Krieg hatte das nicht; denn die Spartaner wären auch ohne das von Argos abgezogen, nachdem sie mit der Verheerung zu Ende waren. Aber es war nach so vielen Kämpfen auf bundesgenössischem Gebiet endlich ein flagranter Bruch des Friedens von 421, die offene Ankündigung, daß Athen den Krieg wolle. Man mochte in Athen neugierig sein, was Sparta daraufhin unternehmen werde.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 232-235.
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