Äußere Gestalt des Kulturlebens in Athen

[735] Mit vollem Bewußtsein hat die attische Demokratie die Aufgabe ergriffen, alles, was dem hellenischen Leben äußeren Schmuck und inneren Gehalt verlieh, in Athen zu vereinigen und der gesamten Bürgerschaft zugänglich zu machen. »Für die Erholung des Geistes von der Arbeit«, läßt Thukydides den Perikles sagen, »haben wir zahlreiche Vorkehrungen getroffen, teils die Festspiele und Opfer, die wir das ganze Jahr hindurch feiern, teils geschmackvolle private Einrichtungen, an denen wir uns Tag für Tag freuen und so den Trübsinn verscheuchen können.« Von den Bauten und Kunstwerken, mit denen sich Stadt und Land schmückte, ist schon die Rede gewesen. Im Jahre drängt sich Fest auf Fest, »doppelt so viel wie in irgendeiner anderen griechischen Stadt«, alle größeren Feste von mehrtägiger Dauer – über sechzig staatliche Festtage kommen auf das Jahr und dazu zahlreiche und zum Teil sehr angesehene Feiern in den Demen, dem Piräeus, Salamis, Brauron, Phlya u.a. Alles, was von alters her zu griechischen Festen gehörte, fand sich in Athen wieder, meist in vermehrter Gestalt, der die Demokratie ihren Stempel aufgedrückt hatte. Unter den gottesdienstlichen Feiern stand der mystische, Gemüt und Phantasie mächtig erregende Kult der Göttinnen von Eleusis oben an, zu deren Weihen jedem Hellenen Zutritt gewährt ward; ferner die dionysischen Feste mit ihren Schmäusen und Trinkgelagen, Umzügen, Lustbarkeiten und ernsten Feiern. Seine ganze Macht und Herrlichkeit entfaltete der Staat alle vier Jahre bei den Großen Panathenäen (im Hochsommer) in der Parade der Ritterschaft und dem großen Festzug, zu dem auch die Bündner Deputationen und Weihgaben schickten. Auch bei den städtischen Dionysien im Frühling erschienen alljährlich ihre Gesandten. [735] Da sonnte sich Athen im Glanze seiner Macht: die Überschüsse der Tribute und der Staatseinnahmen wurden über die Orchestra geführt. Ihnen folgten die Kinder der Gefallenen: die Opfer, welche man alljährlich für die Weltstellung brachte, durften nicht vergessen werden (Isokr. 8, 82). Den Gefallenen selbst galt dann die Leichenfeier im Herbst, bei der die Festrede zu ihrem Ruhm zur glänzenden Verherrlichung der Taten Athens und der hohen Gesinnung ward, die der Staat seit der Urzeit in allen Lagen gleichmäßig bewährt hatte (o. S. 475). – Gymnastische Wettkämpfe, in der Adelszeit der Hauptreiz jeder Feier, durften auch in Athen an den Hauptfesten nicht fehlen. Geschulte Athleten und Sportsleute aus der Fremde wurden zugelassen; den Hauptteil der Wettkämpfer aber stellte Athen selbst: hatte doch die Demokratie die Gymnasien jedermann zugänglich gemacht, ob arm oder reich, vornehm oder gering – dem Nachwuchs aus dem Thetenstande war allerdings eine Beteiligung an den körperlichen Übungen wohl nur in geringem Maße möglich –, und Turnlehrer und Ringmeister angestellt, unter deren Leitung die Jugend heranwuchs919. So stritten denn bei den Panathenäen, den Dionysien, den Theseen und bei manchem Gaufest attische Knaben, Jünglinge und Männer im Wettlauf, Ringen, Faustkampf um die Preise; dazu kamen militärische Kampfspiele aller Art, ferner bei den Panathenäen der altertümliche Waffentanz der Pyrrhiche, bei den Großen Panathenäen und an dem vierjährigen Fest von Sunion eine Regatta. Besonderer Beliebtheit erfreute sich der Fackelwettlauf der Phylen im nächtlichen Dunkel, eine athenische Erfindung, für deren Ausrüstung die Gymnasiarchen zu sorgen hatten; er fand an den Panathenäen, Hephästien, Prometheen, ferner zu Pferde im Piräeus am Fest der aus Thrakien importierten Göttin Bendis920 statt und ist von den Athenern auch [736] in Neapel eingeführt worden (o. S. 732). Den Glanzpunkt der Wettkämpfe jedoch bildete auch in Athen das Wagenrennen, vor allem an den Großen Panathenäen, aber zugleich an den Theseen und sonst; es war, wie Tragödie und Komödie übereinstimmend bezeugen, in Athen ebenso populär wie nur irgendwo in Griechenland oder wie heutigentags in England. So demokratisch man gesinnt war, so stolz war man, wenn die vornehmen Häuser bei den Festen ihren Glanz vor aller Welt zur Schau stellten.

Zu den Götterfesten gehörten Gesang und Tanz; seit dem 6. Jahrhundert hatten sich auch den Wettspielen, vor allem in Delphi, musische Aufführungen angeschlossen. Pisistratos und seine Söhne hatten diese Entwicklung mächtig gefördert, die Demokratie ihr Werk zum Abschluß gebracht. Durch die Deklamationen der Rhapsoden wurde dem Volk alle vier Jahre bei den Panathenäen und beim Artemisfest von Brauron das alte Epos vorgetragen, die Grundlage der Religion und Bildung, in dem die durch die Tradition geheiligte Weltanschauung der alten Zeit sich zusammenfaßte. Das waren Ausnahmen; bei keinem größeren Fest in Stadt und Land fehlten dagegen lyrisch-musikalische Vorträge. Teils waren es Einzelgesänge mit Kithara- oder Flötenbegleitung, vor allem die von Terpander geschaffenen Nomen, teils Chorgesänge (meist Dithyramben), die in der Regel von Flötenmusik begleitet wurden. Bei den Soli traten Virtuosen des Gesangs und der Instrumentalmusik auf, die meist aus der Fremde kamen und von Ort zu Ort zogen; die dithyrambischen (kyklischen) Chöre dagegen waren seit Kleisthenes' Verfassungsreform – bei den Dionysien im Frühling 507 sind zum erstenmal Männerchöre aufgetreten921 – in echt demokratischem Geiste gestaltet worden: die neugeschaffenen Phylen stellten die Knaben- und Männerchöre und rangen miteinander um den Preis, die reichsten Bürger übernahmen als Chorführer auf ihre Kosten die Ausrüstung nach dem Turnus der Liturgien. Perikles hat nach dem Sturze des [737] Areopags die Aufführungen vermehrt und neu geordnet, vor allem sowohl Soli zur Kithara und Flöte wie Dithyramben bei den jährlichen Panathenäen eingeführt – es ist bezeichnend, daß hierbei die Phylen nicht konkurrierten, sondern die Choregen sich ihren Chor aus der gesamten Bürgerschaft wählten. Nach dem Frieden mit Persien hat er dann für die musikalischen Aufführungen das Odeon gebaut922.

Ähnliche musische Feiern kamen so ziemlich in jeder griechischen Stadt vor, wenn auch nirgends in solcher Zahl und Ausstattung. Die Spezialität Athens dagegen, die kein anderer Staat kannte, waren die dramatischen Aufführungen an den Dionysosfesten. In Syrakus hat Epicharms Komödie die Tyrannis nicht überlebt; die Mimen Sophrons, so bezeichnend sie sind für die scharfe Hinwendung zum Charakteristischen, waren doch nur ein sehr ungenügender Ersatz. Die attische Tragödie aber, die Hieron daneben an seinen Hof zog, hat hier so wenig Wurzel geschlagen und einheimische Fortsetzungen erzeugt wie die Lyrik des Pindar und Simonides. In Athen dagegen hat die Demokratie auch hier das Werk der Tyrannis zur höchsten Vollendung geführt und so die beiden strahlendsten Edelsteine in ihre Ruhmeskrone gesetzt. Der von Pisistratos bei den städtischen Dionysien im Frühjahr 533 eingeführte tragische Wettkampf ist zwar nicht an die Phylen gebunden, aber doch auch ein Wettringen innerhalb der Bürgerschaft: drei Choregen, jeder mit drei Tragödien und einem Satyrdrama, kämpfen um den Siegespreis. Später, jedenfalls seit dem [738] Archidamischen Kriege, also vielleicht durch Perikles, sind auch an den Lenäen, im Januar, Tragödien aufgeführt worden923. Daneben haben sich aus den alten Zeiten des staatlich noch nicht organisierten Bauernfestes tragische Aufführungen an den ländlichen Dionysien (Dezember-Januar) in mehreren Demen erhalten oder sind hier nach dem Vorbild der Stadt neu eingerichtet worden, so vor allem im Piräeus. Als dann im Jahre 487 durch Abschaffung des Wahlarchontats der zweite große Schritt zur Durchführung der vollen Demokratie geschah, wurden auch die phallischen Aufzüge der Dionysosfeste mit ihren Maskeraden und Possen unter die staatlichen Feiern aufgenommen. Ähnliche Umzüge und Mummenschänze, bei denen die Mitwirkenden in groteskem Kostüm auftraten, mit riesigem Hinterteil und Phallus von Leder, gab es vielerorts, in Sparta, Sikyon, Megara, Theben, in Sizilien und Unteritalien. Possenreißer traten hinzu oder traten auch wohl allein vor das Volk. Schwänke und Märchen wurden vorgeführt oder auch die Göttergeschichte lustig persifliert; die einzelnen Berufe wurden durchgehechelt, auch die Schwächen und Gebrechen stadtbekannter Personen nicht geschont; an derben Witzen und vor allem an Prügelszenen durfte es nicht fehlen. Wie aus derartigen Volkslustbarkeiten das Lustspiel Epicharms hervorgegangen ist, so haben sie sich auch in Athen zu fester Form verdichtet. Den alten Kern bildete die phallische Prozession eines phantastisch kostümierten Chors (κῶμος), der sich aus den jungen Leuten zusammenfand. In der Mitte des Schwanks legte er sein Kostüm ab, um den Tanz, den Hauptakt des Gottesfestes, aufzuführen; dazu sang er das Festlied, mit dem sich eine große Scheltrede an die Bürgerschaft verband. Diese »Parabase« bildet den Kern der alten Komödie; an sie schließen sich vorher und nachher eine Reihe von Einzelszenen. Diese Feier ist jetzt verstaatlicht worden; nach dem Muster der Tragödien traten an den Lenäen [739] und an den Dionysien je drei komische Chöre auf. Im Jahre 487 hat Chionides den ersten Sieg gewonnen. So vielgestaltig und locker geführt die Komödie war, eine politische Färbung hat sie von Anfang an gehabt; wenn kein Bürger ihres Spottes sicher war, so hat sie die leitenden Männer und ihre Maßregeln immer vor allem aufs Korn genommen. Es ist deshalb kein Zufall, daß ihre Anerkennung durch den Staat in dasselbe Jahr fällt, in dem Themistokles mit dem vollen Selbstregiment des souveränen Volkes Ernst machte924. Ihren politischen Charakter hat die Komödie trotz aller äußeren und inneren Wandlungen gewahrt, solange Athen eine Großmacht war; ein wohl von Perikles ausgehender Versuch, im Jahr 440 während des Samischen Kriegs ihre Freiheit zu beschränken und die Angriffe auf Persönlichkeiten zu beseitigen, mußte schon nach drei Jahren wieder fallen gelassen werden925. Mit dem Falle Athens dagegen ist auch die alte Komödie ins Grab gesunken.

[740] Es ist erstaunlich, welche Anforderungen der Staat an die poetische und musikalische Produktion hat stellen können, ohne daß die Leistungsfähigkeit versagte. Von den Kitharöden und Aulöden sind vermutlich vielfach ältere Dichtungen und Kompositionen aufgeführt worden, wie die Nomen Terpanders und seiner Nachfolger; dagegen für alle Bürgerchöre – Dithyramben, Tragödien, Komödien – waren neue Schöpfungen vorgeschrieben. Zwar hatte das Volk dem überragenden Genius des Äschylos auch dadurch gehuldigt, daß es die Wiederaufführung seiner Tragödien nach seinem Tode gestattete, und auch sonst sind alte Tragödien wiederholt worden, aber, wie es scheint, immer nur an besonderen Festtagen außerhalb des regelmäßigen Zyklus der neuen Stücke926. Für die Großen Dionysien hat man in dem Jahrhundert von Kleisthenes bis zum Tode des Euripides und Sophokles im Jahr 406 nicht weniger als 300 Tetralogien, d.h. 900 Tragödien und 300 Satyrspiele, gebraucht; dazu kamen etwa seit Perikles mehrere hundert Stücke für die Lenäen927. Bei den nichtstaatlichen Aufführungen in den Demen mögen dagegen in der Regel Stücke aus der Stadt wiederholt worden sein. Komödien sind von 487 bis 405, falls nicht z.B. während des Perserkriegs ein Jahr ausfiel, im ganzen 498 aufgeführt worden. Noch viel gewaltiger ist die Zahl der Dithyramben. An den Dionysien stellten fünf Phylen [741] Knaben-, fünf Männerchöre; bei den Thargelien zwei Phylen zusammen je einen Knaben- und einen Männerchor. Ähnlich wird es bei den Prometheen und Hephästien gewesen sein. Wie viel Chöre bei den Panathenäen auftraten, wissen wir nicht. Außerdem sandte der Staat, wie es scheint, alljährlich Chöre nach Delos (im Jahr 425 begründete er hier da neben ein großes, alle vier Jahre gefeiertes Fest). Dazu kamen Aufführungen in den Demen, z.B. im Piräeus, sowie auf Salamis und wohl auch bei manchen kleineren Festen. Wenn nun auch ein Teil dieser Aufführungen erst durch Perikles organisiert, ja die Hephästien erst 421 eingerichtet sind, so schätzen wir doch keineswegs zu hoch, wenn wir annehmen, daß in dem Jahrhundert von Kleisthenes bis zum Falle Athens mindestens 4000-5000 Dithyramben für Athen produziert worden sind. Unter den Dichterkomponisten waren sehr viele Nichtathener; auch unter den Tragikern erscheinen nicht wenige Fremde, wie Pratinas von Phlius (Bd. III2 S. 730 und sein Sohn Aristias, Ion von Chios, Aristarchos von Tegea, Achäos von Eretria, Neophron von Sikyon, Karkinos von Agrigent. Weitaus den Hauptteil des ungeheuren Bedarfs aber haben die Athener selbst gedeckt, Äschylos, Sophokles und Euripides zusammen allein vielleicht fast ein Viertel. Komödien endlich konnten ihrem Wesen nach nur von Athenern gedichtet werden.

Um diese Leistungen beschaffen zu können, mußte der Staat allerdings außerordentlich hohe materielle Anforderungen an die reichen Bürger (und Metöken) stellen; denn die Einübung und Ausrüstung der Chöre wurde ausschließlich durch Liturgien besorgt. Wie wir aus einer Rede des Lysias (21) erfahren, hat ein athenischer Bürger im Jahr 410 dreimal die Choregie seiner Phyle bekleidet und dabei für die Tragödie an den Dionysien 30 Minen, für einen Männerchor an den Thargelien 20 Minen, für die Pyrrhichisten an den Großen Panathenäen 8 Minen ausgegeben. Im nächsten Frühjahr 409 hat ihn ein Männerchor bei den Dionysien, bei denen er siegte und daher auch das Weihgeschenk, einen Dreifuß, zu stiften hatte, 50, dann im Sommer ein kyklischer Chor bei den Kleinen Panathenäen 3 Minen gekostet. Im Jahr 405/4 siegte er als Gymnasiarch für die Prometheen (12 Minen),[742] und war Chorege für einen Knabenchor (über 15 Minen), 402 Chorege für die Komödie (16 Minen), für den Pyrrhichistenchor der Jünglinge bei den Panathenäen (7 Minen), und gewann mit seiner Triere einen Sieg in der Regatta von Sunion (15 Minen). Das sind in vier Jahren 176 Minen (16000 M.). Außerdem hatte er mehrere religiöse Funktionen zu versehen (30 Minen), 70 Minen Vermögenssteuer (Eisphora) zu zahlen, und war von 410 bis 404 Trierarch, was ihn 6 Talente (32640 M.) kostete. Insgesamt hat er also in den neun Jahren von 410 bis 402 nicht weniger als 10 Talente 3600 Drachmen (fast 57700 M.) für den Staat ausgegeben. Der Redner erklärt, daß er, wenn er auf seinem gesetzlichen Rechte hätte bestehen wollen, nicht den vierten Teil dieser Ausgaben hätte zu leisten brauchen; immerhin aber zeigt sein Beispiel, welche Anforderungen der Staat stellen konnte und in welchem Umfang sie erfüllt wurden. Dadurch war es möglich, alljährlich einen sehr ansehnlichen Teil des Volkes zur aktiven Mitwirkung bei den Festen heranzuziehen. Der Chor der Tetralogien scheint ursprünglich aus 50 Männern bestanden zu haben; durch Sophokles wurde er für jede Tragödie auf 15 erhöht. Mithin erforderten allein die Tragödien an den Dionysien 180 Choreuten, dazu an den Lenäen vielleicht ebenso viele. Der Komödienchor bestand aus 24 Mitgliedern, für die sechs jährlichen Komödien also 144. Die Stärke der dithyrambischen Chöre war sehr verschieden; die der Panathenäen scheinen nur aus 7 Sängern bestanden zu haben928. Die Normalzahl ist auch hier 50 gewesen (vgl. Simon. epigr. 147). Mochten nun auch dieselben Personen oft in mehreren Chören mitwirken – allzu viele können das allerdings nicht gewesen sein, da die Phylen fortwährend wechselten –, so ist es doch evident, daß seit Perikles allein an den staatlichen Festen alljährlich weit über 1000, ja vielleicht über 2000 Männer und Knaben als Sänger und Tänzer in den Chören aufgetreten sind. Dazu kommen die Schauspieler, die sehr beträchtliche Zahl der Statisten in den Dramen, sowie alles, was sonst als Verfertiger der Masken, Kostüme, Dekorationen usw. an den Aufführungen beteiligt war. Dieser Teilnahme des gesamten[743] Volkes an Poesie und Musik entsprach die Erziehung929. Wie jeder Athener bis zum Wursthändler auf den Gassen zur Not lesen und schreiben konnte, so besuchten die Knaben des Mittelstandes und der Reichen nicht nur die Turnschule der Gymnasien, sondern auch die Gesangschule der Kitharisten und lernten die alten Lieder. Beim Schreiblehrer wurde Homer, Hesiod, Archilochos und wer sonst zum Inventar der Rhapsoden gehörte, gelesen und gelernt; die Kenntnis der Elegie, vor allem der an Theognis sich ansetzenden Sammlung (Bd. III2 665), brauchte man für den Rundgesang beim Trunke. Da begreift man, daß Dichtungen und Melodien auch dem gewöhnlichen Mann in Fleisch und Blut übergegangen waren, daß die Diskussion über die theoretischen Grundfragen des poetischen und musikalischen Stils, welche in anderen Kulturgebieten die gebildeten Kreise bewegt, in Athen vom gesamten Volke geführt wurde, daß die Komödie, fast möchte man sagen in jedem Verse, literarische Anspielungen und Parodien bringen durfte in der sicheren Erwartung, daß sie vom Publikum verstanden würden, daß man Literaturkomödien wie die »Thesmophoriazusen« und die »Frösche« und so viele andere auf die Bühne bringen konnte – vor 30000 Zuschauern!

So hat Athen weitaus alles überboten, was früher die Tyrannenhöfe und jetzt selbst die mächtigsten und reichsten Republiken leisteten; weder Korinth mit seinen Dithyramben, noch Sparta mit der Pflege der alten Musik und der gymnastischen und kriegerischen Künste, noch gar Syrakus und Agrigent und die unteritalischen Städte mit all ihrem unruhigen Luxus und raffiniert [744] sinnlichen Lebensgenuß konnten sich mit ihm messen. Überhaupt hat niemals wieder in aller Geschichte ein Staat, der zugleich große politische Aufgaben erfüllen mußte, die Kunst so in den Mittelpunkt des gesamten Volkslebens gestellt und durch die Aufgaben, die er ihr setzte, auch nur annähernd so nach allen Seiten befruchtend gewirkt wie Athen; einzig die Pflege der Wissenschaft, welche der preußische Staat seit 1808 ununterbrochen geübt hat, läßt sich dem vergleichen. In Delphi und Olympia waren allerdings auf engem Raum noch mehr Kunstwerke und Schätze vereinigt als auf der Burg von Athen; und hier fand sich alle vier Jahre bei den Nationalfesten und ebenso in jedem zweiten Jahre in Nemea und am Isthmos ein noch größeres und bunteres Publikum zusammen, und die Schaustellungen und Wettkämpfe waren, wenn nicht glänzender, so doch berühmter und gepriesener als in Athen. Zu diesen Festen drängte sich daher, auch wenn die musischen Künste nicht wie in Delphi einen Bestandteil des Programms bildeten, alles zusammen, was in Hellas einen Namen gewinnen und auf die gesamte Nation wirken wollte, Sänger und Musiker, ionische Geschichtenerzähler, und bald auch Redner und Sophisten aus Sizilien und dem Mutterlande. Das waren Höhepunkte des hellenischen Lebens; aber nur für die wenigen Festtage hatten die heiligen Stätten Bedeutung, an denen sich während des Gottesfriedens auf neutralem Boden Bürger aus allen griechischen Staaten zusammenfinden konnten. In Athen dagegen war die Kultur mit dem Boden des Landes eng verwachsen und Gemeingut der ganzen Bürgerschaft, die an ihrer Entwicklung selbsttätig mitwirkte; und zahlreich stellten sich auch hier die Fremden ein, ja die Bündner waren zur Teilnahme an den Hauptfesten verpflichtet. So bot Athen doch einen wesentlich anderen und viel nachhaltigeren Resonanzboden; wie die Produkte der ganzen Mittelmeerwelt und alle materiellen Erfindungen und Genüsse floß hier zusammen, was irgendwo von geistigen Regungen und Strömungen aufkam. Wer Hellas wirklich für sich gewinnen wollte, mußte die Feuerprobe vor dem attischen Publikum bestehen. Mächtig gingen die Wirkungen von Athen hinaus in die ganze griechische Welt. Die Chorgesänge seiner Dramen wünschte man überall kennenzulernen, [745] und an manchen Orten hat man alsbald seine Einrichtungen nachgeahmt, auch auf feindlichem Boden, so in der großen Kuranstalt beim Asklepiosheiligtum von Epidauros die rhapsodischen Vorträge und die Tragödien. Mit vollem Recht konnte Athen sich rühmen, die Bildungsstätte für ganz Hellas zu sein.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 735-746.
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