Viertes Kapitel

Das Erwachen der Armut zum sozialen Selbstbewußtsein

Wenn man auf Grund der geschilderten Literatur eine Geschichte der sozialrevolutionären Bewegung in Rom schreiben wollte, würde sich dieselbe fast ausschließlich zu einem Kapitel aus der Geschichte des Wahnsinns und Verbrechens gestalten. Die Träger dieser Bewegung würden sich ohne Unterschied als die Vertreter des bösen Prinzipes in der Gesellschaft darstellen; eine Auffassung, die der Wirklichkeit unmöglich gerecht werden kann. Auch wenn man nicht soweit geht wie eine gewisse moderne Publizistik, die z.B. »in den vielgeschmähten Catilinariern Roms beste Kräfte«, die »sozialveranlagten Naturen aus allen Lagern erblickt«,1 so muß man doch auf Grund der vorstehenden Analyse der Hauptquellen ohne weiteres zugeben, daß das Urteil der Tendenzüberlieferung wesentlicher Modifikationen und Ergänzungen bedarf. Ganz von selbst drängt sich hier die Erkenntnis auf, daß uns in sozialgeschichtlicher Hinsicht für das letzte Jahrhundert der Republik eine Aufgabe gestellt ist, die eine gewisse Ähnlichkeit mit derjenigen hat, welche die Niebuhrsche Kritik für die älteren Zeiten zu lösen unternahm. Bevor nicht die Tünche sorgfältig abgehoben ist, mit der hier Vorurteile und Interessen von Klassen und Parteien, sowie rhetorische Übermalung das echte Bild der Wirklichkeit verdeckt haben, ist überhaupt kein Schritt zu einer klareren und richtigeren Erkenntnis der sozialen Bewegung möglich. Erst müssen wir uns in vollem Umfang vergegenwärtigt haben, daß und warum diese für das Urteil der Folgezeit maßgebend gewordene Literatur der Geschichte[389] des sozialen Gedankens unmöglich gerecht werden konnte; dann werden wir auch das Illusorische der bisherigen Anschauungen über die Stellung der römischen Welt zu den großen sozialen Problemen erkennen und uns vor dem weitverbreiteten, auch in die neueste Geschichte des Sozialismus übergegangenen Trugschluß hüten, der das, was für jene Literatur nicht vorhanden war, ohne weiteres auch der geschichtlichen Wirklichkeit abspricht.

Auf welche Irrwege eine Forschung geraten kann, welche sich dem Eindruck der in der erhaltenen römischen Literatur zur Herrschaft gelangten Darstellungsweise gefangen gibt und es verabsäumt, den Spuren des Echten nachzugehen, an denen es doch keineswegs ganz fehlt, dafür haben wir ein drastisches Beispiel an der Erörterung eines großen Romanisten über die Freiheits- und Gleichheitsidee des römischen Volkes, von dem wir nach seiner Ansicht lernen können, »wie ein charaktervolles und politisch reifes Volk diese Ideen auffaßt und welche Früchte sie ihm tragen«.2

Die römische Gleichheit – meint Jhering – gehe Hand in Hand mit der wahren Freiheit, und darum auch mit dem auf Ungleichheiten gerichteten Bildungstrieb der Geschichte. Ja, sie lasse sich als der Ausfluß der Freiheit selbst betrachten. »Frei soll sich in Rom entwickeln alles, was Lebenskraft in sich trägt; und daß nicht eine Kraft hier auf Kosten der anderen künstlich durch Gesetz bevorzugt werde, das. ist es, was die römische Gleichheit will.« Die Ungleichheit des Resultates, welche die natürliche Folge der Verschiedenheit der Kräfte ist, oder die durch die Zwecke des Staates bedingt wird, habe für die Römer nichts Verletzendes gehabt. Ungleichheit in der Lebensstellung, in Rang, Stand, Ehre, politischem Einfluß, Vermögen usw. sei ihnen niemals als Verstoß gegen das republikanische Prinzip erschienen. »Willig zollte der Römer jenen Vorzügen seine Achtung und von einem Haß gegen die Besitzenden, diesem düsteren Schatten der heutigen Zeit, findet sich keine Spur« (!). Kurz – so können wir hinzufügen – dieses glückliche Rom hat wirklich das soziale Friedensideal verwirklicht, wie es einst die Rhetorik eines Cicero seinen Bürgern vor Augen zauberte!

In der Tat hat Cicero ganz augenscheinlich zu dieser Auffassung Gevatter gestanden. Den Ausgangspunkt der ganzen Erörterung bilden die Sätze der ciceronischen Pflichtenlehre über die Verwirklichung der[390] Rechtsgleichheit zwischen hoch und niedrig im römischen Recht;3 und mit wahrhaft ciceronischem Optimismus wird als die sozialpsychologische Wirkung dieser Gleichheit vor dem Gesetz eine »durchaus gesunde Beschaffenheit des politischen Gleichheitsgefühles der Römer« behauptet! Als ob diese formale Gleichheit bei entwickelten Kulturvölkern jemals genügt hätte, jede Verbitterung über schroffe soziale Ungleichheiten im Keime zu ersticken! Und was soll dies Wunder in Rom gewirkt haben, trotzdem gerade hier die herrschenden Klassen der vollen Verwirklichung dieser formalen Gleichheit alle möglichen Hemmnisse zu bereiten wußten? Die Antwort ist bezeichnend. Sie bedeutet einen Höhepunkt des Optimismus, der kaum mehr zu überbieten ist.

Den Beweis für die Richtigkeit der Ansicht, daß man in Rom keinen Klassenhaß gegen die Besitzenden kannte, findet nämlich Jhering darin, daß die sozialen und wirtschaftlichen Verschiedenheiten hier »das natürliche Produkt freier Entwicklung« waren. Denn »wo sie dies sind, haben sie nichts Gehässiges (?!). Sie können nur da in einem solchen Lichte erscheinen, wo sie durch künstliche Mittel, d.h. durch Privilegien, hervorgerufen oder geschützt sind,4 wo also das Übergewicht des einen durch gesetzliche Zurücksetzung des anderen bewerkstelligt ist.« Nur hier »kann das an sich völlig berechtigte Gefühl der Gleichheit, durch die Mißachtung, die es erfährt, gestachelt, sich in Haß und Groll gegen die Besitzenden verkehren und das Phantom der falschen widersinnigen Gleichheit bei den Massen Eingang finden«.5

Diese Argumentation hätte in einer Staatsrede Ciceros stehen können, so sehr schlägt sie allen Tatsachen ins Gesicht! Sind etwa in den demokratischen Staaten der hellenischen Welt und im modernen Rechtsstaat die Besitzesunterschiede weniger das »natürliche Produkt freier Entwicklung« gewesen als in Rom, und sind nicht gerade sie die Stätten des »wilden Gleichheitsschwindels« und der »fanatischen Nivellierungssucht« geworden, vor welchen nach Jhering das antike Rom durch dieselbe »natürliche« Entwicklung so völlig bewahrt geblieben[391] sein soll? Und wie gestaltete sich nach seiner Auffassung dieser Naturprozeß in Rom? So unheilvoll wie möglich! Er bezeichnet selber einmal an einer späteren Stelle des genannten Werkes die »schadhafte Gestaltung des Systems der Güterverteilung und Vermögenskonzentration geradezu als den Todeskeim, an dem die römische Gesellschaft zugrunde gegangen ist«. In Rom sei die Tendenz zur Häufung des Reichtums durch eigentümliche Verhältnisse in ungewöhnlicher Weise gesteigert und umgekehrt das Zurückströmen des Vermögens in die entblößten Teile äußerst erschwert gewesen. »Nirgends ward der Reiche so leicht Millionär, der Unbemittelte so leicht Bettler wie hier. Nirgends war die Grenzlinie zwischen beiden Extremen so schmal und so schwer zu behaupten; ein Schritt nach der einen oder andern Seite, und lawinenartig wuchs die Not oder der Überfluß«6 Und trotz alledem soll in Rom der Kapitalismus nichts Gehässiges gehabt haben? Man traut seinen Augen kaum, wenn man dergleichen liest und dabei die Entwicklungsgeschichte dieses Kapitalismus im Geiste an sich vorüberziehen läßt!

Trotzdem scheint die Ansicht von dem gesunden sozial-konservativen Sinn des Römertums noch immer weit verbreitet zu sein. Die Rolle, die im »Geist des römischen Rechts« das »gesunde politische Gleichheitsgefühl« spielt, übernimmt in der neuesten Geschichte des Sozialismus der »nüchterne praktische« Sinn des Römers, der ihm stets nur solche Vorschläge zur Reform von Staat und Gesellschaft eingegeben haben soll, die »dem Bestehenden und der menschlichen Natur Rechnung trugen«.7 – Als ob alle diejenigen, die in der römischen Welt an der Vollkommenheit von Staat und Gesellschaft zweifelten, in unserer Literatur auch wirklich zum Worte kämen und uns das vollständige Register der sozialen Ideen des Römertums vorläge, auf Grund dessen allein eine derartige Behauptung möglich wäre! Von den Hunderttausenden römischer Proletarier hat auch nicht einer Gelegenheit gehabt, eine unmittelbare Kunde von seinen sozialökonomischen Wünschen und Träumen auf die Nachwelt zu bringen; und trotzdem weiß[392] der neueste Geschichtschreiber des Sozialismus ganz genau, daß sie im Gegensatz zu den Griechen von vorneherein durch ihren »nüchterner, praktischen Sinn« und ihren »ausgeprägten privatwirtschaftlichen Erwerbsgeist« davor behütet waren, sich »von den Idealen des Kommunismus irgendwie gefangen nehmen zu lassen«!8

Übrigens ist die ganze Anschauungsweise nicht nur für den Kenner der Überlieferung, sondern schon aus allgemeinen psychologischen Gründen ein Unding. Denn wie kann man im Ernste in dieser rein konventionellen, schablonenhaften Weise bei einem ganzen großen Kulturvolke eine so einheitliche, all seinen Gliedern gemeinsame geistige Disposition annehmen, wie dies hier geschieht!

Und wie ist es denkbar, daß bei einem solchen Volke und unter dem Druck der verhängnisvollsten, den ganzen Volksorganismus erschütternden und zersetzenden geschichtlichen Wandlungen dieser einheitliche Grundcharakter so völlig unverändert blieb, daß man ohne weiteres sagen könnte: diese oder jene Richtung des Denkens und Empfindens war hier nicht möglich? Als ob die psychischen Antriebe und Motive, die im Völkerleben wirksam sind, unwandelbare Naturkräfte wären; und als ob das Seelenleben eines entwickelten Kulturvolkes, in welchem doch immer sehr verschiedenartige Tendenzen neben- und gegeneinander wirken, ein so einfaches Gebilde wäre, daß sich seine Entwicklung in so mechanische Formeln zwingen ließe!

Man mag noch so viel Gewicht auf das legen, was man die Erdgebundenheit des Volkslebens oder was man den angeborenen Volksgeist9 genannt hat, eine psychologische Auffassung des historischen Lebens wird neben dieser Bodenständigkeit oder Naturausstattung doch stets die Tatsache berücksichtigen, daß die Volksseele im Wandel der Generationen und der Zustände ihr Leben unablässig erneuert, und in diesem ewigen Wechsel von Auflösung und Neubildung der psychische Typus, die geistige Individualität des Volkes oder einzelner Volksgruppen wesentliche Wandlungen erfahren kann, daß man sich also bei der Beurteilung des Volkstypus vor allem davor zu hüten hat, eine zu kurze Entwicklungsreihe oder eine willkürlich gewählte Epoche[393] zugrunde zu legen. Ein Fehler, der für die hier bekämpfte formalistische Anschauungsweise recht eigentlich bezeichnend ist.

Gerade auf dem gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Gebiete ist jenes psychische Verhalten von wechselnden Voraussetzungen abhängig. Es kommt hier doch unendlich viel darauf an, welcher Art die Beziehungen sind, in denen die einzelnen Elemente und Gruppen des Volkes zueinander stehen. Lockern oder ändern sich diese Beziehungen, treten in den Lebensvorgängen des wirtschaftlichen und sozialen Organismus stärkere Störungen oder Verschiebungen ein, so ändern sich auch die Formen der wechselseitigen psychischen Reaktion. Läßt sich ferner das, was möglicherweise für die Massenpsyche zutreffen könnte, ohne weiteres auch auf das einzelne Individuum übertragen? Als ob nicht die Entwicklungsgeschichte der Kulturvölker zugleich eine fortschreitende Differenzierung, eine zunehmende individuelle Selbsttätigkeit und Selbständigkeit bedeutete, die den Faktor des Unberechenbaren im Seelenleben der Nation gewaltig steigert und eine psychologische Charakteristik, die Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt, von vorneherein unmöglich macht! Man könnte diesem Anspruch mit der einfachen Frage des Apuleius begegnen: Quando non in omnibus gentibus vara ingenia provenere?10 Fließt irgendwo – fragt ein moderner Soziologe – der Strom der Geschichte aus einheitlicher Quelle?

Dazu kommt, daß ja nicht einmal die Elemente, auf denen ein bestimmter Volkstypus beruht, ethnologisch immer dieselben bleiben, daß vielmehr zahlreiches fremdes Blut in den Volksorganismus Aufnahme findet, dessen Assimilierung doch nicht immer ohne Folgen für den allgemeinen psychischen Habitus bleibt.11 »Der Name eines Volkes deckt mit der Zeit immer Verschiedeneres.«12 Und es ist daher schon aus diesem Grunde nicht ganz richtig, wenn man gemeint hat, daß »ein Volk sich seine Geschichte allein aus dem Grunde seines Naturells heraus schaffe«.13

Wo sind nun aber diese Wandlungen intensiver gewesen als gerade[394] in Rom? Aus der alten Bauernrepublik hat sich auf der Basis einer wahrhaft internationalen Verkehrsstellung die Groß- und Weltstadt entwickelt, die schon Q. Cicero eine aus der Vereinigung der Völker gebildete Gemeinde nennt14 und die anderen sich darstellte wie ein »Versammlungsort des Erdkreises«,15 wie eine »Weltherberge«,16 wie ein »Kompendium der Welt«!17 Schon Lucan meint – allerdings poetisch übertreibend –, Rom sei nicht von den eigenen Bürgern bevölkert, sondern mit der Hefe des Erdkreises angefüllt.18 Und Seneca sagt von der Menschenmenge, »für welche kaum die Häuser der unermeßlichen Stadt ausreichten«, daß sie zum größeren Teil aus Zugewanderten bestand, aus Leuten, die »aus dem ganzen Erdkreis herbeigeströmt seien«.19 Kann sich auf diesem Boden der alte römische Volkstypus in seiner vollen Eigenart behauptet haben? Oder repräsentieren etwa die Massen, die – um dem Ackergesetz des Tiberius Gracchus zum Siege zu verhelfen – aus ganz Italien nach Rom strömten, »wie die Flüsse in den Ozean«,20 und die das Forum beherrschende plebs urbana des letzten Jahrhunderts der Republik21 denselben Volkstypus wie die alte plebs rustica, die dereinst auf dem Forum den Ausschlag gegeben hatte?

Nichts könnte diese gewaltigen Wandlungen im Volksleben besser veranschaulichen als die Schilderung, welche Cicero von den immer zügelloser werdenden römischen Volksversammlungen entwirft. Sie haben – sagt er – ganz und gar das Gepräge der griechischen Agora angenommen. Die Demagogen reden »wie Griechen zu Griechen«.22

Dazu welch ein Gegensatz zwischen dem alten bäuerlichen Rom und der geistigen Atmosphäre der Weltstadt, zwischen dem aristokratisch-bäuerlichen Konservatismus des älteren Römertums und jenem Revolutionarismus, wie er uns in dem ausgeprägt rationalistischen, kritisierenden, zersetzenden Geistesleben der Großstadt entgegentritt!23 Und[395] wie frühzeitig hat dieser großstädtische Geist wahrhaft nivellierend gewirkt, wie mächtig hat er – bereits seit der Wende des 3. und 2. Jahrhunderts – dazu beigetragen, durch die massenhafte Aufnahme fremder, besonders hellenischer Bildungselemente das spezifisch Römische mehr und mehr »in den Begriff einer allgemeinen Zivilisation aufzulösen«. Welche Wandlungen in einem Zeitalter, das den Radikalismus und Skeptizismus des »Philosophen« der athenischen Bühne, die Leichtfertigkeit der athenischen Komödie, den sozialen Utopismus der »heiligen Chronik« des Euhemeros und des Semiten Mago Theorie der kapitalistischen Plantagenwirtschaft in systematischen Übertragungen oder Nachahmungen dem römischen Publikum zugänglich machte! Und was ist seit dieser Zeit nicht alles durch das römische, wie das immer zahlreicher in Rom zusammenströmende griechische Literatentum und sonstige Griechenvolk geschehen, um »den geistigen Horizont von Hellas über Italien zu erstrecken«!24

Warum soll auf diesem Wege nicht auch etwas von dem Geiste der sozialen Kritik der Griechen und ihres sozialen Radikalismus in das Denken und Empfinden der römischen Gesellschaft eingedrungen sein, nachdem doch – wie wir sehen werden – die Römer trotz ihrer »praktischen Nüchternheit«25 sich willig dem Zauber der sozialen Romantik des Griechentums hingegeben haben? Hat nicht die gewaltigste revolutionäre Ideologie, das Christentum, mit seinen ausschweifenden chiliastischen[396] Umsturzgedanken, gerade in Rom schon sehr bald Eingang gefunden? Und sind es nicht gerade die radikalen Elemente der neuen Geistesrichtung, die »Sektierer«, die hier Fuß zu fassen suchten und in der Tat große Erfolge aufzuweisen haben? Gewiß ein sprechender Beweis für die gesteigerte Intensität des geistigen und seelischen Lebens der buntgemischten hauptstädtischen Bevölkerung.

Die Charakteristik, welche der Geist des römischen Volkes in dem Buche vom Geist des römischen Rechtes gefunden hat, erinnert lebhaft an die Schilderung, welche ein antiker hellenischer Bewunderer Roms von der Mäßigung der Parteien im römischen Ständekampf entwirft.

Ausgehend von der ja unleugbar richtigen Beobachtung, daß der Ständekampf in Rom nicht mit den gegenseitigen Ausrottungskämpfen griechischer Oligarchen und Demokraten verglichen werden könne, da die alte Plebs nie an eine Expropriation und Ausmordung der Aristokratie und ebensowenig die letztere daran gedacht habe, sich durch eine systematische Vernichtung der Plebs Ruhe zu schaffen,26 versteigt sich Dionys von Halikarnaß zu der kühnen Behauptung: Wie in einem guten Hause Brüder mit Brüdern, Kinder mit Eltern ihre Rechtsstreitigkeiten in ruhiger Aussprache schlichten, so hätten es damals in Rom die Parteien gehalten und es niemals über sich gebracht, an den Gegnern eine frevelhafte und gottlose Tat zu verüben!27 – Eine glänzende Betätigung der vielberufenen römischen Kardinaltugenden der antiqua disciplina Romana, der vetus et sobria virtus, der mit der fortitudo sich paarenden sapienta, der pietas und gravitas,28 die zu den Inventarstücken der patriotischen Rhetorik gehören und immer wieder Anlaß zur nationalen Selbstberäucherung geben bis herunter auf die Schrift über mosaisches und römisches Recht, die noch in später Zeit das römische Volk als ein Muster maßvoller Besonnenheit und Ruheliebe (als eine gens modesta et tranquilla) feiert.29

Nun hat es ja allerdings einmal in Rom eine Zeit gegeben, die glückliche Epoche von der Beilegung des Ständekampfes bis auf den hannibalischen Krieg, in der das gegenseitige Verhältnis der politisch maßgebenden[397] Bevölkerungsschichten im großen und ganzen ein befriedigendes war und der Geist besonnenen Maßhaltens und einer gewissen praktischen Nüchternheit die Signatur des inneren Lebens der Republik bestimmte. Allein diese geistige Disposition der damaligen Gesellschaft ist doch nicht das Ergebnis eines unveränderlichen psychischen Typus, der dem Römertum als solchem unter allen Umständen eigentümlich gewesen wäre; sie hängt vielmehr ganz wesentlich zusammen mit der Eigenart der ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse der älteren Republik. Wenn das Gleichheitsgefühl dieser Epoche ein gesundes war, so erklärt sich das eben aus dem gesunden Gleichgewicht, welches damals noch zwischen größerem, mittlerem und kleinem Besitze in der römischen Gesellschaft bestand, und dem Einfluß, den der Mittelstand auf den Gang des öffentlichen Lebens auszuüben vermochte.

Was uns über die wirtschaftliche Lage eines Curius Dentatus und Atilius Regulus oder von Geschlechtern, wie den Valeriern, Porciern, Äliern, berichtet wird, mag zum Teil recht problematisch sein, soviel läßt es aber doch deutlich erkennen, daß die regierenden Kreise damals noch nicht entfernt in dem Grade wie später durch eine tiefe Kluft von dem mittleren und kleinen Besitz getrennt waren. Die Nobilität zählte Männer in ihren Reihen, Träger der erlauchtesten Namen, die der einfache bäuerliche Landwirt als seinesgleichen betrachten durfte und die ihm in ihrem Denken und Empfinden durchaus nahestanden. »Wollten unsere Alten« – schreibt Cato – »einen Ehrenmann loben, so hieß er ihnen ein rechter Landwirt, ein rechter Bauer. Der galt für hochgelobt, der so gelobt ward.« Eine Anschauungsweise, die nur dazu dienen konnte, das gesunde Autoritäts- und Vertrauensverhältnis zu stärken, welches ohnehin den Bauernstand mit den senatorischen Häusern verband, bei deren rechtserfahrenen Mitgliedern er gewohnt war, für seine häuslichen Interessen sich Rats zu erholen, aus denen er sich seine militärischen Vorgesetzten und die Führer wählte, welche die bäuerlichen Legionen zu Sieg, Ruhm und Gewinn führten. Denn – und das ist wesentlich mitentscheidend für die Rückwirkung dieser patriarchalischen und militärischen Beziehungen auf die politische Haltung der Bauernschaft – diese Führung diente zugleich ihren ökonomischen Interessen, dank einem Regierungssystem, welches die Erhaltung und die wirtschaftliche und politische Stärkung der freien Bauernschaft als ein Staatsinteresse anerkannte und es der plebs rustica ermöglichte, in jedem neuen Krieg neue Äcker und neue Hufen zu gewinnen.

[398] Und nun vergegenwärtige man sich, was es zu bedeuten hatte, daß dieses durch und durch konservative, grundangesessene Bauerntum – bei der damaligen politischen Ohnmacht der städtischen Bevölkerung – das Forum unbedingt beherrschte! Ist es zu verwundern, daß wir aus einer solchen Zeit nichts von schroffen Klassengegensätzen und tiefer gehenden Klassenkämpfen, nichts von Angriffen auf die bestehende Gesellschaftsordnung hören? Diesem gesunden naturwüchsigen Bauerntum, dem Bauern von altem Schrot und Korn, lag es ja völlig ferne, aus seiner Klassenlage und aus seinem Berufe hinauszustreben. Die anerkannte Stellung der plebs rustica als einer großen und selbständigen, das staatliche Leben machtvoll beeinflussenden sozialen Gruppe, das Kraftgefühl und Selbstbehagen in gefestigter und ausreichender wirtschaftlicher Position mußte die überwiegende Mehrheit dieser altrömischen Bauernschaft mit einem stolzen Bewußtsein der eigenen Geltung erfüllen, einem Selbstgefühl, dem wahrlich nichts ferner lag, als jener soziale Pessimismus, der sich der eigenen Arbeit und des eigenen Berufes schämt, sich in Neid und Groll gegen den Höherstehenden verzehrt und nichts heißer ersehnt, als sich an dessen Stelle zu setzen. Der Gedanke, den Pflug zu verlassen und den Müßiggänger zu spielen, lag diesem echten und unverfälschten Bauerntum noch völlig ferne. Auch wo es sich beschwert fühlte, war es doch weit davon entfernt, seine Beschwerden zu verallgemeinern und seine Unzufriedenheit gegen den Staat und die Gesellschaft als solche zu wenden. Mit unversehrter Kraft wirkte in ihm die Bodenständigkeit des Bauern; an den Formen, nach denen es nun einmal sein Dasein zu gestalten gewohnt war, an der eigenen historischen Besonderheit hielt es ebenso fest, wie an dem Respekt vor den Besonderheiten der anderen politischen und sozialen Faktoren, die neben ihm das Volksleben beherrschten, vor der Überlieferung, vor der natürlichen historischen Gliederung des Volkes, die so ganz und gar zu seiner eigenen ständischen Empfindungsweise stimmte. »Die Arbeit des Landbauers fesselt den Mann an die Scholle, in die er seine Beweglichkeit hineingräbt; und die Ernten, die um ihn aufschießen, beengen seinen Blick.«30 Kann[399] man das Denken und Empfinden dieses Mannes ohne weiteres mit dem seiner müßigen proletarischen Nachkommen in der Weltstadt identifizieren, bloß weil beide Römer waren?

Trotzdem würde man nun aber sehr fehlgehen, wenn man glauben wollte, daß auch nur dieser bäuerliche Republikaner der guten alten Zeit dem konventionellen Römertypus vollkommen entsprochen hat. Wo es sich um sein Klasseninteresse handelte oder die Versuchung an ihn herantrat, mit Hilfe seines politischen Übergewichtes auf dem Forum ungünstige Tendenzen der Volkswirtschaft von sich abzuwehren, hinderte ihn sein Konservatismus nicht, – man denke nur an die Sezessio von 287! – gelegentlich auch durch den Appell an die revolutionäre Gewalt seine Wünsche zur Geltung zu bringen oder der Gesellschaft Forderungen aufzuzwingen, die von der »praktischen Nüchternheit des Römers, von seinem »volkswirtschaftlich so gesunden Sinn«,31 von seiner angeblichen Gewohnheit, »nur konkret zu denken«32 oder gar von jenem römischen Wesen, dem »der Staat alles war und die Erweiterung des Staates der einzige nicht verpönte hohe Gedanke«,33 herzlich wenig erkennen lassen.

So war es ja ein ganz richtiger sozialer Instinkt, der den Bauer schon damals die Gefahren ahnen ließ, die ihm von seiten des neben und über ihm emporwachsenden Kapitalismus drohten. Wenn er aber diese Gefahr oder den Druck zeitweiliger Bedrängnis dadurch beseitigen zu können glaubte, daß er die Herabdrückung des gesetzlich zulässigen Kapitalzinses unter den normalen Zinsfuß und, als dies nichts half, ein völliges Verbot des Zinsnehmens überhaupt durchsetzte,34[400] so bewies er eben nur, daß sein eigennütziger bäuerlicher Partikularismus, die Beschränktheit des bäuerlichen Gesichtskreises und die in dieser Beschränktheit wurzelnde Verblendung durch unverstandene Schlagwörter stärker in ihm war als jener angebliche gesunde Römersinn für das volkswirtschaftlich Richtige und Mögliche. In diesem Kampfe gegen das Kapital zeigt er sich ebenso als Illusionist und von allem Mutterwitz und »derbem Realismus« verlassen, als wenn er die abstraktesten Weltverbesserungspläne ausgeheckt hätte. Oder gehört der naive Glaube, den Preis des Geldes beliebig festsetzen zu können, und, die Idee von der Unentgeltlichkeit des Kredits auch noch zu dem Gedankenkreis, der »dem Bestehenden und der menschlichen Natur Rechnung trägt«? Ist nicht vielmehr – zumal inmitten einer entwickelten Volkswirtschaft wie der damaligen – diese Ausgeburt eines unklaren bäuerlichen Radikalismus35 im Grunde ebenso utopisch wie die Ideale des Kommunismus und Sozialismus?36

Wenn schon die alte plebs rustica im Kampf gegen den erst emporkommenden Kapitalismus derartiger wirtschaftspolitischer Extravaganzen fähig war, wie muß da erst die spätere Allgewalt des Kapitalismus in der Volkswirtschaft, in Staat und Gesellschaft auf das Volksgemüt gewirkt haben: die ungeheure plutokratische Entartung der oberen Klassen und der rettungslose Verfall eines großen Teiles der alten Bauernschaft, der, soweit er reichte, den sozialen Charakter des Bauern unterwühlte, seine Eigenart als des konservativsten Elementes im Staate geradezu zerstörte!

Was man von der Entwicklungsgeschichte des modernen Sozialismus gesagt hat, gilt bis zu einem gewissen Grade auch für diese Verfallszeit der römischen Republik. »Es wäre seltsam, wenn eine so mächtige Umwälzung in wirtschaftlichen und sozialen Dingen nicht alsbald ihre Widerspiegelung gefunden hätte in den Köpfen denkender Menschen.[401] Es wäre wunderbar, wenn auf diese Umgestaltung sozialer Dinge nicht auch eine Umgestaltung sozialen Denkens, Wissens und Glaubens gefolgt wäre.«37 Selbst wenn alle Kunde davon verschollen wäre, müßten wir notwendig annehmen, daß parallel mit jenen Revolutionen im Leben sich in der Sphäre sozialen Denkens grundsätzliche Wandlungen vollzogen haben.

Was mag der der wirtschaftlichen Umwälzung zum Opfer gefallene Bauer gegen die großen Herren und die reichen Spekulanten empfunden haben, die ihn und die Seinen aus den festen Bahnen ihrer bisherigen Existenz herausgeworfen und dem Verderben preisgegeben hatten! Kann dieser aus dem gewohnten Kreislauf alter Standessitte herausgerissene, heimatlose, haus- und herdlose Mann, der sich aus einer vollwichtigen sozialen Potenz zu einer sozialen Null geworden sah, dasselbe gesunde Gleichheitsgefühl bewahrt haben wie der Bauer, dessen bürgerliche Existenz auf den Grundpfeilern des festen Besitzes und gesicherten Erwerbes ruhte? War der entartete proletarische Bauer, bei dem sich naturgemäß zu dem ökonomischen Ruin nur zu oft der Fluch des sittlichen Verkommens gesellte, der Bauer in seiner Erniedrigung und Verderbnis, war der gegen den Geist der sozialen Verneinung ebenso gefeit wie die alte stolze plebs rustica oder sein glücklicherer Standesgenosse, der sich in seiner wirtschaftlichen Position behauptet hatte?

Eine konventionelle Betrachtungsweise ist noch immer viel zu sehr geneigt, unter dem Eindruck der äußeren Pose des civis Romanus, der römischen »Gemessenheit und Würde«,38 die Einflüsse solcher Wandlungen der sozialen Verhältnisse auf das Seelenleben des Volkes zu unterschätzen. Und doch war dieses Volkstum nichts weniger als dazu angetan, Verarmung und Verelendung mit gleichmütiger Gelassenheit und in stummer Resignation als einfachen »Naturlauf« hinzunehmen. Der antike Italiker war schwerlich in viel geringerem Grade ein »empfindliches, reizbares, heißblütiges, heftig begehrendes und verabscheuendes Geschöpf«39 als der neuere Italiener, der – unter demselben Himmel, auf demselben Boden erwachsen – in seinem psychischen[402] Habitus seinem römisch-italischen Vorfahren gewiß weit näher stand als jener schwerfällige, kalte, mehr nordische als südliche Volkstypus, nach dessen Muster sich die Schule das »echte« Römertum konstruiert hat. Wenn aber die Summe von Leidenschaft, die in dem antiken Volkstum Italiens lebte, kaum wesentlich geringer war als in dem heutigen, wenn insbesondere das lebhafte Freiheitsgefühl, das in diesem letzteren jahrhundertelange geistige, politische, ökonomische Knechtung nicht zu brechen vermochte, in dem Freiheitsstolz des Römers40 aufs höchste gesteigert erscheint, so hat gewiß auch in dem Herzen des verarmten und verkümmerten, durch den unfreien Arbeiter des Grundherrn und Kapitalisten oft sogar aus kümmerlicher Tagelöhnerei oder Pacht verdrängten Landvolkes Altitaliens etwas von jenem tiefen Haß gegen die signori und possidenti gelebt, der die Landbevölkerung mancher Striche des heutigen Italiens »gleichsam zu einer allgemeinen stillschweigenden Verschwörung vereinigt«.41

Wenn sich auch das seit dem 2. Jahrhundert in Italien so massenhaft auftretende Brigantentum wesentlich aus den unfreien Hirten und Landarbeitern der Weidebarone und Latifundienbesitzer rekrutierte, so hat doch die Proletarisierung der bürgerlichen Bevölkerung gewiß ebenfalls ihren Anteil daran gehabt. Wenn die Konkurrenz der billigen Sklavenarbeit oft selbst den bescheidensten ehrlichen Broterwerb als Tagelöhner verschloß, wenn die Mittel, durch welche so mancher freie Mann von Haus und Hof verdrängt ward, oft nicht besser waren, als Diebstahl und Raub, wie hätte da nicht so mancher der Versuchung erliegen sollen, den Krieg der Großen gegen das Eigentum der Kleinen nun seinerseits mit einem Krieg der Kleinen gegen das Eigentum der Großen zu erwidern,42 statt mit Weib und Kind zu hungern oder zu betteln? Oder sollte er etwa warten, bis es einem der vornehmen Herren einfiel, ihn einfangen zu lassen und unter die Sklavenherde eines großen Gutes zu stecken,43 wo er vielleicht dasselbe Land, das früher sein freies Eigen gewesen, in Ketten und unter Schlägen bebauen mußte?

[403] Wenn wir im Zeitalter der Gracchen an den furchtbaren Revolutionen der Feld- und Hirtensklaven Siziliens auch das freie Proletariat massenweise sich beteiligen und plündernd und zerstörend gegen das Eigentum vorgehen sehen,44 so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß auch diesseits der Meerenge bei den zahlreichen Erhebungen der italischen Sklavenherrschaft der freie Proletarier oft genug Schulter an Schulter in den Kampf gegen die historische Gesellschaft miteingetreten ist.45 »Krieg den Palästen, Friede den Hütten« war die Devise, unter der der Sklavenkönig von Enna seine Scharen jahrelang zum Siege gegen die bestehende Gesellschaft führte, um auf ihren Trümmern ein Reich der Gerechtigkeit und der bis dahin Geknechteten und Elenden zu gründen;46 und eben dies mußte naturgemäß der Parole der Massen des Spartakus und anderer Sklavenführer Italiens sein.47 Was konnte für diejenigen, für die kein Raum mehr war in der freien Gesellschaft, näher liegen als der Gedanke, bei dieser Gelegenheit auf Kosten ihrer Bedränger einen Platz an der Sonne zurückzugewinnen?

Haben doch die sozialen und politischen Gegensätze selbst das Solidaritätsgefühl des civis Romanus gegenüber jenen meist stammfremden Massen erstickt! So sehr ist in den revolutionären Zeiten des letzten Jahrhunderts der Republik den Parteien alles gesunde soziale und politische Empfinden abhanden gekommen, daß die Aufstandsversuche gegen die bestehende Ordnung in der Regel damit endigten, daß man – genau so wie in Hellas48 – die Sklaven gegen ihre Herren zu den Waffen rief!49 Wenn bankerotte Existenzen der höchsten Klassen selbst mit diesem furchtbarsten aller Proletariate gegen die bürgerliche Gesellschaft gemeinsame Sache machten, wie z.B. jener römische Ritter Titus Vettius, der sich aus seinen Schulden keinen anderen Ausweg[404] mehr wußte, als seine Sklaven für frei und sich zu ihrem König zu erklären (i.J. 104), wie hätte da das Proletariat blöder sein sollen, als die, welche aus den Reihen der oberen Zehntausend zu ihm herabgesunken oder herabzusinken im Begriffe waren?

Der verdorbene römische Bauer war eben nichts weniger als geneigt, dem ciceronischen Rat zu folgen und sich mit seinem Elend in einen Winkel zu verkriechen, um dort zu verhungern. Hatte er doch eines aus dem Schiffbruch gerettet: das Bewußtsein, souveräner und stimmfähiger Bürger der Republik zu sein, und damit die Aussicht, durch die Verwertung dieser Eigenschaft immer noch einigen Anteil an den Gütern der Welt für sich zu erraffen! Eine Möglichkeit, die für den Bildungsprozeß des vierten Standes50 und für die Entwicklung des proletarischen Geisteslebens insoferne von größter Bedeutung war, als sie den ländlichen Proletarier aus seiner Vereinzelung herausriß und ihn in Masse nach Rom führte, wo er mit Tausenden und Abertausenden von seinesgleichen und zugleich mit den verdorbenen Leuten aus allen anderen Gesellschaftsschichten Fühlung gewann.

Und wie gewaltig muß in der Hauptstadt diese Armee des Elends angeschwollen sein! Da waren zunächst die zahlreichen Elemente, die der soziale Zersetzungsprozeß von den höchsten Schichten der Gesellschaft abgebröckelt hatte, die Leute aus dem Amts- und Geldadel, die infolge der ungeheuren politischen Glückswechsel und Wirtschaftskrisen der Zeit, infolge des enorm gesteigerten Standesaufwands51 und verschwenderischen Mißbrauchs des Reichtums die Voraussetzungen einer standesgemäßen Existenz verloren hatten. Losgelöst oder ausgestoßen aus ihrem sozialen Kreise und doch meist unfähig, auf dessen Lebensansprüche zu verzichten, waren diese herabgekommenen und meist auch sittlich verlotterten Nobili und Geldmänner52 die geborenen[405] Kandidaten des vierten Standes und nur zu häufig auch seine Führer in dem Kampf gegen die gesellschaftliche Ordnung. Wie proletarisierend wirkte hier allein das uns aus Ciceros Pflichtenlehre sattsam bekannte Klassenvorurteil, das sich für zahlreiche Möglichkeiten der Arbeit und des Erwerbes zu vornehm dünkte und es dem Deklassierten so außerordentlich erschwerte, wieder festen Boden unter den Füßen zu gewinnen.

Daher auch die gewaltige Ausdehnung jener Schicht des vierten Standes, die man als das Proletariat der Bildung bezeichnen kann. Und zwar gehören dazu nicht bloß Leute, wie jene Winkeladvokaten, die nicht einmal die Miete für ihre Wohnung zu erschwingen vermochten,53 oder der arme Schulmeister, der – in enger Kammer hausend54 – »unter die Dachziegel« verschlagen war,55 und all das sonstige Literatenvolk, dessen traurige Lage ein Juvenal so beredt schildert,56 und das oft zu allen möglichen Beschäftigungen greifen mußte, um nicht zu hungern,57 sondern auch literarische Größen ersten Ranges. Ein Martial, der, solange er noch drei steile Treppen hoch im Haus »zur Birne« wohnte, nur durch fortwährende Betteleien und niedrige Klientendienste58 seine Existenz fristete,59 ein Juvenal, der sich vergeblich »zu den Schwellen der Mächtigen müde lief«, um emporzukommen,60 sind echte Typen des vierten Standes, obwohl sie keineswegs mittellos waren. Denn gerade bei ihnen kommt das ganze soziale Mißbehagen der Klasse, die verzehrende Unzufriedenheit über das Mißverhältnis zwischen Lebenslage und Lebensansprüchen, der Drang, das nicht sein zu wollen, was man nun einmal ist, und dazu das bittere Gefühl, überzählig zu sein in der Gesellschaft,61 zum leidenschaftlichen Ausdruck.

[406] So äußert sich einmal Martial so pessimistisch wie möglich dahin, daß in Rom ein rechtschaffener Mann auf eine sichere Existenz überhaupt nicht rechnen dürfe.62 »Was suchst du in der Stadt«, ruft er einem Freunde zu, der von dem allgemeinen Zug nach der Großstadt angesteckt ist, »mit deiner Armut und Ehrlichkeit? Wenn du nicht unter die Kuppler, Zechbrüder oder Denunzianten gehen kannst, wenn du nicht die Frau eines Freundes verführen oder den Minnesold alter Weiber verdienen, nicht am Kaiserpalast Dunst verkaufen, noch dich in die Claque der Virtuosen verdingen kannst, wovon willst, Armer, du leben?«63 »Woher nimmst du« – fragt er ein anderes Mal – »das Geld zu einem Mantel, den Mietzins für eine finstere Kammer?«64


»Geschlossenen Zuges« – klagt Juvenal –

»Müßten aus Rom schon längst auswandern die armen Quiriten.

Nicht leicht kommen empor die, deren Verdiensten im Weg steht

Knappes Vermögen im Haus; doch noch viel schwieriger wird es

Solchen zu Rom.«65


Denn hier ist:


»Teuer armselige Wohnung,

Teuer Ernährung von Sklaven und teuer ein hungriges Essen!«


Und ein andermal gibt er durch den Mund eines Schicksalsgefährten derselben Stimmung Ausdruck mit den Worten:


»Weil für schickliche Künste (artibus honestis!)

Platz nicht ist in der Stadt, kein Segen die Mühe belohnet,

Heut ist kleiner die Habe als gestern, und morgen sie wieder

Wird von dem Wenigen noch einbüßen, so hab' ich beschlossen,

Dahin zu ziehn, wo Dädalus müd' ablegte die Flügel.«66


Inngrimmige Resignation, das ist – wenigstens unter den gefestigten Verhältnissen des Cäsarenstaates – das Lebensfazit, welches sich für diese Enterbten ergab, wenn ihnen nicht irgendein Glückszufall zu Hilfe kam. In unruhigen Zeiten dagegen, wie in dem letzten, revolutionären Jahrhundert der Republik hat dieser offenbar über eine sehr zahlreiche Schicht verbreitete Geist der Unzufriedenheit gewiß wesentlich dazu beigetragen, die revolutionären Stimmungen in der hauptstädtischen Masse zu verschärfen.

An den Geistesproletarier reiht sich an der Proletarier des Gewerbes und der Lohnarbeit. Wie viele waren dem Pauperismus allein dadurch verfallen, daß sie sich nicht durch Übernahme von Lohnarbeit oder anderem[407] »unanständigen« Erwerb »zum Sklaven erniedrigen« wollten oder das Kapital nicht besaßen, dessen Größe nun einmal nach dem herrschenden Vorurteil statt des Talentes und der Arbeitskraft den Maßstab für die Schätzung eines Berufes bildete. Wie viele haben in einem aussichtslosen Kampf gegen die Übermacht des großen Kapitals und der Sklaven- und Freigelassenenkonkurrenz Schiffbruch gelitten oder es von vorneherein nur zu einer proletarischen Existenz bringen können! Was war in dem teuren Rom ein Arbeiter, der etwa im Tagelohn drei Sesterzen verdiente, mehr als ein kümmerlicher Proletarier?

Kein Wunder, daß sich dasjenige Element, das man als den tiefsten Niederschlag des Pauperismus bezeichnen kann, das Bettler- und Vagabundentum, das hungernde, arbeitslose und arbeitsscheue Gesindel aller Art, das Verbrecher-, Gauner- und Banditentum, kurz das eigentliche Lumpenproletariat in Rom zu solcher Massenhaftigkeit entwickelte, daß man von seiner Bevölkerung wie von einer Kloake oder einem Sumpf sprach, der beständig der Reinigung und der Abzugskanäle bedürfe!67

Und nun vergegenwärtige man sich angesichts dieser Unsumme proletarischen Großstadtelends die ungeheure Konzentrierung des Reichtums auf den Höhen der Gesellschaft, die schnöde Spekulantenherr schaft, deren roher Materialismus kein höheres Ziel kannte als die rücksichtslose Vermehrung des zum großen Teil ergaunerten und erplünderten Reichtums, die Mammonsverehrung, die Wohlleben und Genuß zum Selbstzweck des Daseins erhob, und den plutokratischen Hochmut, der Nichtstun für vornehm hielt und mit souveräner Verachtung auf die Armut herabsah!68 Welche Empfindungen muß all das in der Seele des Proletariers geweckt haben, der Tag für Tag den blendenden Glanz und den trägen Genuß dieses sich selbst vergötternden Reichtums dicht neben seinem Elend vor Augen hatte! Wenn es schon dem athenischen Proletarier zur Zeit Menanders so recht zum Bewußtsein kam, wie elend und jammervoll sein Dasein war,69 wie muß da erst die furchtbare plutokratisch-proletarische Spaltung in der Weltstadt Rom in der Armut das volle Bewußtsein ihrer Lage erweckt haben!70[408] Hat jemals der Neid des Proletariats gegen die Geldsäcke, der Scharfblick der Armut für den Egoismus und die sittliche Hohlheit gewisser Kreise der vornehmen Welt, der Groll des verletzten Freiheitsgefühls des Niederen gegenüber dem Klassenhochmut der Höhern71 einen schärferen Ausdruck gefunden als in jener düsteren Psychologie des Reichtums, welche das römische Literatentum in Epigramm und Satire niedergelegt hat?72

Nun ist ja allerdings nirgends in dem Grade wie in Rom Gesetzgebung, Verwaltung und private Liberalität bemüht gewesen, durch »Brot und Spiele« das Gefühl der Massen für ihr Elend abzustumpfen, den Pöbel durch den gleißenden Schimmer, mit dem sie dies Elend umgab, in einer Stimmung zu erhalten, welche die eigene gesellschaftliche Lage ohne viel Reflexion als etwas Selbstverständliches hinnimmt. Und es ist das ja ohne Zweifel auch bei einem Teile des faulenzenden und schmarotzenden Pöbels erreicht worden.73 Aber auf der anderen Seite trug ja eben diese Politik einer irrationellen Almosenwirtschaft auch wieder mächtig dazu bei, die Begehrlichkeit und damit den Geist der Unzufriedenheit erst recht großzuziehen, der ohnehin im Kampfe der Parteien durch eine skrupellose Demagogie systematisch geschürt wurde.74

Und was hätte einen aufreizenderen Agitationsstoff abgegeben oder an sich schon aufreizender wirken können als der schneidende Widerspruch, der sich in dem Leben des römischen Proletariers und Kleinbürgers auftat, wenn er seine Stellung in Volkswirtschaft und Gesellschaft verglich mit den Rechten und Ansprüchen, die ihm seine Stellung als römischer Bürger gab! Ebenso wie der Reichste und Mächtigste Träger der Souveränität des Populus Romanus, die höchsten Ämter des Staates und damit die regierende Körperschaft des Reiches mit Männern seiner Wahl besetzend und durch die legislative Gewalt der Comitien zur Entscheidung über die Geschicke eines Weltreichs berufen, durfte[409] er im Vollgefühl »römischer Freiheit« sich rühmen, zu den »Herren der Welt« (terrarum domini!) zu zählen! Und derselbe souveräne Bürger mußte in den tausend Beziehungen des bürgerlichen Lebens die bittere Erfahrung machen, daß man in der Gesellschaft »nur so weit etwas ist, als man etwas hat«,75 daß »der Arme überall ohnmächtig am Boden liegt«,76 daß »nur dem auf der Lebensfahrt ein günstiger Wind weht, der das Geld in der Tasche hat«.77

Kein Wunder, daß der arme civis Romanus über dieses sein Verhältnis zur Gesellschaft ernstlich zu reflektieren begann, daß hier der Proletarier sehr bald lernte, über sich selbst als eine soziale Erscheinung zu philosophieren und daß er bei dieser theoretischen Selbstschau am Ende in der leidenschaftlichen Empörung seines Freiheitsgefühls gegen den ungeheuren Druck der sozialen und ökonomischen Ungleichheit die Frage aufwarf: »Ist nicht meine ganze »Freiheit« Lüge, ist sie nicht der reine Hohn, wenn sie mir kein anderes Obdach bietet, als ein elendes, niedriges Loch?«78

Hatte aber einmal der Stachel des Widerspruches zwischen Wunsch und Wirklichkeit in den grollenden Seelen mißvergnügter Proletarier jenes Bewußtsein des Pauperismus geweckt, welches sie ihre ökonomische und soziale Lage als eine Pariastellung empfinden ließ, so ergab sich für dies proletarische Gedankenleben ganz von selbst die weitere Reflexion: »Wie kommt es, daß wir so gar arm sind? Mit welchen Mitteln kann der Armut abgeholfen werden? Ist nicht überhaupt dieser ganze Zustand sozialer Ohnmacht und die gesellschaftliche Ordnung, in der sie wurzelt, ein Unrecht?« Und was war natürlicher, als daß nun diese zum sozialen Selbstbewußtsein erwachte Armut sich gegen den Reichtum wendete, dessen Vertreter ja zum Teil die Massenverarmung unmittelbar mitverschuldet hatten und jedenfalls an dem[410] Fortbestand der Verhältnisse interessiert waren, gegen die eben der Geist der proletarischen Empörung sich auflehnte?

Allerdings war seit der Beilegung des Ständekampfes der Gegensatz von vornehm und gering, von hoch und nieder nicht mehr das Ergebnis einer ständischen Privilegierung, welche den Tieferstehenden von Rechts wegen hinderte, sich auf die Höhen des politischen und gesellschaftlichen Lebens emporzuschwingen. Allein war die Kluft, welche die große Mehrheit von diesen Höhen trennte, dadurch eine wesentlich schmälere geworden? Das Monopol, welches jetzt nicht mehr ausschließlich das Recht der Geburt schuf, gewährte jetzt der Besitz,79 der ja nicht bloß eine wirtschaftliche, sondern zugleich eine politische Macht war. Und die politische Machtstellung, welche der wirtschaftlichen folgte, wurde ihrerseits Mittel und Werkzeug für den Reichtum, sich ins Ungemessene zu vermehren. Ein Prozeß, der das Niveau des als standesgemäß anerkannten und faktischen Einfluß ermöglichenden Besitzes in einer Weise steigerte, daß diese neuen plutokratischen Schranken für die meisten ebenso unübersteiglich waren, wie die alten ständischen. »In eurem Lande« – sagt bei Livius der kommunistische Tyrann Nabis zu Flamininus – »soll der Reichtum regieren und alles übrige ihm untertan sein!«80 Das entscheidende Moment ist die Verteilung des Besitzes geworden. Mußte sich da nicht das proletarische Empfinden, der Groll aller derer, die sich bei dieser Verteilung zu kurz gekommen glaubten, gegen dieselbe ebenso leidenschaftlich empören, wie einst der alte Plebejergeist gegen die Verteilung der Rechte im Patrizierstaat?

Kein Zweifel! Wie in der hellenischen Welt nach den Kämpfen gegen die Geschlechter und gegen die politische Privilegierung des Besitzes bei den Massen die Sehnsucht nach wirtschaftlicher Befreiung hervortrat und sie zum Kampfe gegen die wirtschaftliche[411] Machtstellung des Kapitals führte, wie später in den romanisch-germanischen Kommunen infolge starker wirtschaftlicher und sozialer Differenzierung zu dem alten Gegensatz von Patriziern und Handwerkern, von Geschlechtern und Zünften der Gegensatz von reich und arm und zu dem Ringen der unteren Klassen nach politischer Selbständigkeit eine ausgesprochen antikapitalistische, zum Teil in sozialistische Bahnen ausmündende Bewegung hinzutrat und »Teilen mit den Reichen«, »Gemeinschaft der Güter und allgemeine Gleichheit«, »Abschaffung der Klassenunterschiede« weithin beliebte Schlagworte wurden,81 – wie endlich in der Neuzeit den Kämpfen des tiers état gegen den Ständestaat die Erhebung des vierten Standes folgte, so mußte unter Verhältnissen wie denen des späteren Roms mit psychologischer Notwendigkeit nach dem Kampf zwischen Patriziat und Plebs derjenige gegen das kapitalistisch-oligarchische System entbrennen und in einer so von revolutionären Leidenschaften erfüllten und unterwühlten Gesellschaft geradezu den Geist der grundsätzlichen sozialen Verneinung entfesseln.

Das proletarische Bewußtsein ist ja hier nicht bloß bei einzelnen zum Durchbruch gekommen, die sich im Getriebe der Großstadt spurlos verloren. Wenn man sich die Massenhaftigkeit der hier angehäuften verkümmerten und schwachen Existenzen vergegenwärtigt, alle die verdorbenen Bauern, Handwerker und Geschäftsleute, die kümmerlichen Tagelöhner, Handarbeiter, Literaten und Kleinbürger, die heruntergekommenen Aristokraten und durch Konfiskationen Verarmten, die Industrieritter, Strolche, Tagediebe und Vagabunden aller Kategorien, – und wenn man bedenkt, wie das außerhäusliche Leben des antiken Menschen, die politischen Massenversammlungen, der genossenschaftliche Zusammenschluß in den zahllosen Straßenklubs und Vereinen, die Massenlustbarkeiten des Theaters, der Rennbahn und Arena, die regelmäßigen Massenausteilungen von Korn, Brot usw. alle Elemente des vierten Standes in stetigem Kontakt miteinander erhielten,82 so leuchtet[412] ein, daß, wenn irgendwo, so hier der Proletarier bei dieser beständigen Fühlung mit seinesgleichen sehr bald das Gemeinsame erkennen mußte, das ihn mit der Masse der übrigen Enterbten verband; eine Erkenntnis, die das proletarische Bewußtsein des einzelnen zu einem Gemeinbewußtsein proletarischer Massen steigerte. Szenen, wie sie Dionys in die Zeit des Ständekampfes verlegt: wie die Armen auf dem Forum zusammenströmen und in leidenschaftlichen Wechselreden der Erbitterung über ihre elende Lage Luft machen,83 sie sind in der Revolutionsepoche seit den Gracchen gewiß häufig genug gewesen.

Wie diese Massen, insoferne sie zugleich die Summe der Entartung aller übrigen Stände in sich schlossen, tatsächlich eine soziale Neubildung gegenüber der historischen Gesellschaft darstellten, so brach sich auch in einem mehr oder minder großen Teil derselben ganz naturgemäß die Empfindung Bahn, als eine eigene, durch besondere Interessen, besondere Wünsche und Ideen verbundene Klasse der ganzen übrigen – besitzenden – Gesellschaft gegenüberzustehen. Es entwickelt sich ein soziales Gemeinbewußtsein des Proletariats als eines besonderen Standes. »Erst Klassenunterschied, dann Klasseninteresse, dann Klassengegensatz und endlich der Klassenkampf«,84 das ist auch hier der deutlich erkennbare, unvermeidliche Entwicklungsgang der Dinge.

Wenn man von dem Italiener gesagt hat, daß er unter den günstigen Daseinsbedingungen des südlichen Himmels und bei seiner Bedürfnislosigkeit mehr Zeit hat zu reflektieren und zu phantasieren als der Nordländer, daß bis zum gemeinen Facchino das Bedürfnis eines freien Räsonnements und die Lust am öffentlichen Handeln vorhanden ist, daß er daher auch durch Mühsal und Not nicht innerlich gebrochen, sondern allenfalls nur wütender gemacht wird,85 so gilt dies recht[413] eigentlich auch für den damaligen Römer, den Regierung und Aristokratie geradezu zum Müßiggang und damit zum Reflektieren und Räsonnieren erzog. Ist es bei einer derartigen Bevölkerung denkbar, daß der arme Mann fortwährend Tausende neben sich darben oder verkommen sah, ohne daß dadurch der Gedanke des Aufruhrs gegen die Reichen in ihm entbrannte?86 Warum sollte auf diese Römer nicht zutreffen, was wir bei den Griechen so allgemein beobachteten, daß bei freien Völkern mit der Kultur die Sensibilität des Freiheits- und Persönlichkeitsgefühls wächst, daß sich damit für sie zahlreichere und intensivere Möglichkeiten zur Unruhe und Unglücksempfindung auftun, und so eine steigende Fähigkeit des Leidens sich herausbildet, die den Stachel des Widerspruches zwischen Wunsch und Wirklichkeit immer stärker empfinden läßt?

In der Tat kann man sich von der Unsumme proletarischer Empörung, die in diesen Massen aufgespeichert war, kaum mehr recht eine Vorstellung machen. Die unglaubliche Anarchie, bei der das Rom der Revolutionsepoche schließlich anlangte, ist ja recht eigentlich das Werk eines Proletariates, das von der Revolution nicht bloß geistig, sondern auch mit Mund und Magen zehrte. Nirgends hat die Kunst der Wühlerei einen günstigeren Boden gefunden als hier, wo nichts häufiger war als große Massenversammlungen, bei denen ja erfahrungsgemäß der Eifer einiger Überzeugter am leichtesten viele Tausende in seinen Bannkreis zu ziehen vermag, wo sich jedem politischen Abenteurer, der die Eigenart der Masse verstand und zu nützen wußte, sofort Hunderte, ja Tausende von Fäusten zur Verfügung stellten, um sich zum Zwecke der Plünderung und des Mordes bewaffnen zu lassen! War es doch in dieser Epoche der »Saturnalien der Kanaille« nicht selten, daß die agitatorische Ausbeutung des Großstadtelends, wie z.B. der Wohnungsnot, und die von den Demagogen aufgeworfene Frage des Schulden- und Mietzinserlasses u. dgl. m. zu gefährlichen Wutausbrüchen der durchwühlten Massen, ja zu förmlichen Straßenschlachten führte!87 Gewiß ein[414] drastischer Beweis dafür, daß dieses Rom längst über jene Entwicklungsphase der Gesellschaft hinaus war, wo man die Armut lediglich als eine Tatsache der privaten Existenz hinnahm, die sich von selbst verstand. In diesen Massenbewegungen tritt die zu einem genossenschaftlichen Bewußtsein gelangte Armut auf die öffentliche Bühne, als ein Faktor des geschichtlichen Lebens, der eine eminent soziale Bedeutung gewonnen hat. Und insofern hat Mommsen vollkommen recht, wenn er meint, daß die aufrührerischen Bewegungen der Zeiten eines Cinna, Catilina, Cälius, Dolabella »jenen Schlachten der Besitzenden und Nichtbesitzenden, die ein Jahrhundert zuvor die hellenische Welt bewegten, vollkommen gleichartig waren«.88 Die Armut ist zu einer bewegenden und zerstörenden Macht im politischen und sozialen Leben geworden,89 die als solche auch die Republik überdauert hat und selbst für das absolutistische Regierungssystem der Cäsaren ein steter Gegenstand der Sorge war. Wie bezeichnend ist es, daß Cäsar und Oktavian nach ihrem Sieg zum Schrecken der Hausbesitzer (z.B. Ciceros)90 ohne weiteres einen einjährigen Erlaß aller kleinen Mieten bis zum Betrag von 2000 Sesterzen (435 Mark) dekretierten!91

Die Massen der Welthauptstadt müssen fortwährend »beruhigt« werden und diese Beschwichtigung wird auch ganz offen als der Grund dafür angegeben, warum der Cäsarismus ein förmliches Recht dieser Massen auf Brot und Spiele anerkannt hat. Durch Geld- und Kornverteilung – meint Fronto – werde nur ein Teil des Volkes und zwar jeder einzelne besonders beruhigt, durch die Schauspiele aber das Volk in seiner Gesamtheit.92 Und in einem Memoire, das die Tradition als ein Sendschreiben Sallusts an Cäsar bezeichnet, wird der Diktator aufgefordert, dafür zu sorgen, daß der durch Geschenke und Staatskorn[415] bestochene Pöbel seine Beschäftigung habe, damit er von der Schädigung des öffentlichen Wohles abgehalten werde!93 Doch ist es niemals gelungen, wirklich auf die Dauer Ruhe zu schaffen. Daher bilden in der Stadtgeschichte bis in die letzten Zeiten des Imperiums tumultuarische Zusammenrottungen wütender Volksmassen und gewaltsame Ausschreitungen aller Art eine ständige Rubrik.94 Und in der Regel ist es die wirtschaftliche Notlage der Masse, die Klage über hohe Lebensmittelpreise, die Erbitterung gegen ihre wirklichen oder vermeintlichen Urheber, welche die Massen immer wieder zur Erhebung reizte, zumal es trotz der kaiserlichen Polizei nicht an Agitatoren fehlte, welche dies volkstümliche Interesse planmäßig zur Erregung von Unzufriedenheit und Klassenhaß ausbeuteten. Zuweilen steigerte sich dadurch die leidenschaftliche Erregung95 zu solcher Wut, daß ein mordbrennerischer Pöbel die Häuser Mißliebiger förmlich zu stürmen und mit Fackeln und Brandpfeilen einzuäschern suchte!96

Dem Präfekten Symmachus ist einmal von den wütenden Volksmassen das Haus über dem Kopf angezündet worden, aus keinem anderen Grunde, als weil irgendein böswilliges Individuum aus der »Plebs« ihnen eingeredet hatte, er habe die Äußerung getan, daß er mit seinem Wein lieber die Kalköfen löschen als ihn zu dem erwarteten Preise verkaufen wolle!97 Ein Vorkommnis, das zugleich drastisch beweist, daß es nicht etwa bloß die ja allerdings sehr prekäre Lage des hauptstädtischen Versorgungssystems, sondern ganz wesentlich auch die proletarische[416] Reizbarkeit war, welche den revolutionären Geist entfesselte.98 Irgendeine wirtschaftliche oder politische Krise, irgendein den Klassenhaß aufstachelndes Gerede konnte hier vollständig genügen, die in den Massen schlummernden Leidenschaften in hellen Flammen emporlodern zu lassen.

So liefert die ganze Stadtgeschichte Roms einen sprechenden Kommentar zu dem – allerdings einseitigen – sozialen Charakterbild, welches Sallust in seinem Bericht über die Sympathien der »Plebs« für die catilinarischen Umsturzpläne von dieser Volksschicht entwirft. Er meint: »Diese Richtung liegt überhaupt schon in der Natur der ganzen Volksklasse. Denn überall hegt der Mittellose Neid und Mißgunst gegen den Besitzenden; er schwärmt für Unruhstifter, haßt das Bestehende und wünscht neue Zustände herbei. Voll Mißbehagen über die eigene Lage sehnt er sich nach einer allgemeinen Umwälzung: Aufruhr und Empörung bringt ihm Unterhalt, Verluste braucht er dabei nicht zu befürchten, da ja die Armut nichts zu verlieren hat.«99[417]


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 2.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Flegeljahre. Eine Biographie

Flegeljahre. Eine Biographie

Ein reicher Mann aus Haßlau hat sein verklausuliertes Testament mit aberwitzigen Auflagen für die Erben versehen. Mindestens eine Träne muss dem Verstorbenen nachgeweint werden, gemeinsame Wohnung soll bezogen werden und so unterschiedliche Berufe wie der des Klavierstimmers, Gärtner und Pfarrers müssen erfolgreich ausgeübt werden, bevor die Erben an den begehrten Nachlass kommen.

386 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon