Lied

[589] Lied heisst ursprünglich im Gegensatz zu Leich eine unter Harfenbegleitung von einem Einzelnen gesungene Dichtung; da in der ältesten Zeit alle Dichtung, soweit sie nicht Chorgesang war, also namentlich auch die epische Dichtung gesungen, d.h. rhythmisch vorgetragen und mit der Harfe begleitet wurde, hatte sie stets auch die Form des Liedes, ihre metrische Gestalt mochte noch so einfach sein; daher der Name des Hildebrandsliedes, der Merseburger Zauberlieder, Heldenlied überhaupt. Erst als allmählich[589] das Singen der epischen Stoffe aufhörte und an seine Statt das Lesen derselben trat, bildete sich langsam das Lied zu einer musikalisch-lyrischen Dichtungsart im Gegensatz zur rein epischen Dichtung aus. Noch Ottfried's Messiasdichtung bewegt sich in Liedern, die aber schon in vierzeilige zweireimige Strophen zerfallen. Zur volleren Ausbildung gelangte dieses Lied im engeren Sinne in der höfischen Dichtung; doch erscheint es da anfangs noch sehr einfach, in einer einzigen Strophe, meist von vier Zeilen bestehend; erst von den chansons der Franzosen entlehnte man den dreiteiligen Strophenbau, der nun zur festen, selten mehr verletzten Regel wurde. Statt des einstrophischen Liedes kam das vielstrophische in Gebrauch, wobei wieder nach französischem Vorbilde, das Ebenmass der Dreiteiligkeit in der Strophenzahl wiederholend, die Strophenzahl drei, fünf oder sieben beliebt war. Die Dreiteiligkeit der Strophe hat musikalischen Grund: die Strophe ist der Text zu zwei sich wiederholenden und einem dritten selbständigen musikalischen Satze; jene nannten die späteren Meistersänger Stollen, diese den Abgesang; die Strophe selber heisst mhd. das liet, dessen Plural diu liet später infolge der mehrstrophischen Lieder gebräuchlich wird; später heisst sie auch Gesätz. In der Blütezeit der höfischen Lyrik machte es sich jeder Dichter zur Ehre, sowohl im Text, dem wort, als der Melodie, wîse oder dôn, selbständig zu sein, mhd. ein liet vinden; dasselbe bezeichnet trouver, troubadour und trouvère; die Aneignung fremder Strophenformen und Melodien galt für ein Unrecht; wer es that, hiess doene diep. Auch sich selber gegenüber hielten die Dichter auf immer wechselnde Neuheit und erfanden meist für jedes Lied wie für jeden Leich eine andere Form; schliesslich sah man sich freilich gezwungen, um dem Gesetze der Eigenheit und Neuheit zu genügen, zu geschmacklosen Formen zu greifen.

An das Lied der höfischen Kunst schliessen sich der Zeit nach einesteils die strophischen Dichtungen der Meistersänger, andererseits das Volkslied; dort herrscht meist Künstelei, die allmählich in sich selber zusammenfällt, hier entwickelt sich, vielfach an alte Formen anschliessend, nach Form und Gehalt ein überaus reiches Kunst- and Gemütsleben, siehe Volkslied; noch immer ist hier Ton und Wort enge und unauflöslich zusammen verbunden, ebenso noch in den dem 17. Jahrhundert angehörenden Gesellschaftsliedern. Dagegen kommt gegen Ende des 16. und noch mehr im 17. Jahrhundert namentlich seit Opitz dasjenige neuere Lied auf, welches bloss noch zum Lesen bestimmt ist, und erst dem 18. Jahrhundert war es aufbehalten, diese poetische Kunstgattung neuerdings in enge Berührung mit dem Leben der Töne zu bringen. Vgl. besonders die Litteraturgeschichten von Wackernagel und Koberstein.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 589-590.
Lizenz:
Faksimiles:
589 | 590
Kategorien: