Roman

[871] Roman. Schon der Name dieser Dichtungsart erinnert an die französische Quelle; roman bedeutete im Altfranzösischen zuerst die Volkssprache gegenüber dem Latein, dann die in solcher Sprache geschriebene Dichtung, und sofort eingeschränkter die in Prosa erzählte Geschichtsdichtung, besonders die in Prosa erzählte und erdichtete Liebes- oder[871] abenteuerliche Geschichte. Bei den Franzosen entstanden schon im 12. und 13. Jahrhundert prosaische Bearbeitungen der kurz vorher in poetischer Form behandelten mittelalterlich-ritterlichen Sagenstoffe; in Deutschland geschah dasselbe nach dem Absterben der dichterischen Produktivität im 14. Jahrhundert, nur dass man hier vorläufig mit Vorliebe fremde Romane aus französischen, italienischen und lateinischen Quellen übersetzte; immer noch sind es adelige Kreise, für welche diese Arbeiten bestimmt sind, und adelige Damen nahmen mit Vorliebe Anteil daran; auch wo bürgerliche Übersetzer genannt werden, standen diese im Dienste adeliger Gönner. Zu diesen ältesten Romanen in deutscher Sprache gehören Alexander der Grosse, Salomon u. Markolf, Flore und Blanscheflur, Apollonius, die sieben weissen Meister, Amicus und Amelius, Athis und Prophilias, Hug Schapler (eigentlich Hugo Capet), Fortunat mit dem Wünschhütlein; manches darunter berührt sich mit der Novellendichtung, siehe den besondern Artikel. Zwar nicht eigentlich Original, aber doch ganz freie, von bewundernswürdiger Sprachgewalt zeugende Arbeit ist Fischarts, zuerst 1575 gedruckte, dem ersten Buche von Rabelais Gargantua entnommene Geschichtsklitterung oder Gargantua. Im 16. Jahrhundert wuchs diese Litteratur ansehnlich; aus Frankreich kamen Fierabras, die vier Haimonskinder, Kaiser Oktavian, die schöne Magelone und Ritter Galmy. Deutsche Stoffe sind der Eulenspiegel, die Schildbürger und Doktor Faust, alle drei durch Konzentration gangbarer Volksgeschichten auf einen Helden oder auf einen Ort entstanden. Als Erfinder von Romanen wird im 16. Jahrhundert bloss Jörg Wickram aus Kolmar genannt, der in den Jahren 1551–1556 vier Romane schrieb, Gabriotto und Reinhard, den Goldfaden, den Knabenspiegel und die guten und bösen Nachbarn; seine Muster sind die Volksromane, sein Publikum die deutsche Jugend. Daneben hörte die Einfuhr französischer Übersetzungen nichts weniger als auf, namentlich wurde der weitläufige Roman des »Helden Amadis aus Frankreich« die Lieblingslektüre des deutschen Adels, er wuchs von 1569 bis 1594 allmählich auf 24 Bände an und erhielt sich lange die Gunst seines Publikums, auch nachdem viel anderes Material auf den Markt eingeführt war. Don Ouixote, 1621 zum erstenmal ins Deutsche übertragen, machte wenig Aufsehen; dagegen trat der Schäferroman, noch mehr aber der Helden- und Liebesroman nach französischem Muster auf, so zwar, dass sich unter der Hülle des Schäfer- und Heldentums wirkliche Erlebnisse, Personengeschichten und politische Ereignisse der neuesten Zeit, mit Erfundenem vermischt, zu verbergen pflegten; aus dem Spanischen erhielt man die Schelmenromane, Lebensbeschreibungen von Landstreichern und Abenteurern geringer Herkunft. Mitten unter diesen meist geschmacklosen Machwerken begegnet man drei schönen altern Volksbüchern, die der Kapuziner Pater Martin von Kochem aus einem französischen Jesuiten schöpfte, Griseldis, Genovefa und Hirlanda. Aus der Nibelungensage taucht erst jetzt als letzte Erinnerung das Buch vom gehörnten Siegfried auf. Doch fehlt es auch nicht an Romanen, die Deutsche zu Verfassern haben, und zwar legte man, dem Charakter der Bildung des 17. Jahrhunderts gemäss, die mehr ins Breite als in die Tiefe ging und deren Hauptquelle das Reisen war, in die Romane ganze Lehrbücher des Wissenswerten nieder, Geschichte, Länder- und Völkerkunde, Altertümer, Literaturgeschichte, Religions und Sittenlehre, Reisebeschreibungen, Astrologie und Aberglaube; man fügte auch poetische Stücke, Dramen, Schäfer- und[872] Tanzspiele ein. Solche deutsche Romanschriftsteller sind Dietrich v.d. Werder, Philipp von Zesen, A.G. Buchholz, der Herzog Anton Ulrich von Braunschweig, Heinrich Anselm von Ziegler mit der oft aufgelegten »asiatischen Banise« und Lohenstein mit dem Arminius. Selbständiger und bedeutender aber sind die spanischen Mustern nachgebildeten Romane des Moscherosch »Gesichte«, und der Simplicissimus des Christoffel von Grimmeishausen, 1625–1676. Ihr Nachfolger ist Christian Weise: »die drei ärgsten Erznarren«, »die drei klügsten Leute« und »der politische Näscher«. Die bald nachher auftretenden Robinsonaden und deren Nachahmungen, die Aventüriers, führen schon auf den englischen Einfluss, unter dem in Gemeinschaft mit französischen Mustern der moderne Roman erwachsen ist. Siehe die Literaturgeschichten von Wackernagel, Koberstein und Scherer.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 871-873.
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