Anakreon

[170] Anakreon aus Teos in Ionien, nach der gewöhnlichen Annahme im J. 559 v. Chr. geb. Er stand bereits im männlichen Alter, als er bei der Eroberung seiner Vaterstadt durch die Perser mit seinen Mitbürgern zu Schiffe ging und mit ihnen in dem thracischen Abdera eine neue Heimat fand. Um diese Zeit bemächtigte sich Polykrates der Herrschaft von Samos und suchte seine Regierung wie durch die Entfaltung äußern Glanzes, so auch durch den Schmuck der Kunst und Poesie zu verherrlichen. An seinen Hof kam nun auch Anakreon, dessen größte Fruchtbarkeit als Dichter in eben diese Periode fällt. Nach Polykratesʼ Tode folgte Anakreon einem Rufe nach Athen und widmete seine Muse gleichfalls dem Hause der dortigen Tyrannen, dem Preise anderer vornehmer Familien und der poetischen Verherrlichung der Feste der Stadt. Ueber das Lebensende des Dichters haben wir keine sichern Nachrichten. Wiewohl das ganze Alterthum von seinen Poesien mit Liebe und Bewunderung gesprochen hat, so ist Anakreon doch der ächteste Repräsentant des bereits verweichlichten Geistes seines Stammes, der, um mit O. Müller zu reden, im Kallinos noch mit männlichem Muth und Ehrgefühl verbunden erschien, und im Mimnermos sich mit einer zärtlichen Wehmuth von der traurigen Gegenwart abwendet und bei dem Reize des sinnlichen Lebens zu beruhigen sucht, während er im Anakreon alles tiefern Ernstes entblößt ist und das Leben nur insofern als werthvoll betrachtet, als es durch Geselligkeit, Liebe, Musik und Wein verschönert wird; mit Einem Worte: es fehlt bei Anakreon der eigentlich sittliche Charakter. Die Kritik ist aus innern und äußern Gründen längst zu dem Resultat gekommen, daß die auf uns gelangte [170] Sammlung anakreontischer Gedichte der alexandrinischen Periode, ja zum Theil einer noch viel spätern Zeit zugeschrieben werden muß.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1854, Band 1, S. 170-171.
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