Stunden der Andacht

[364] Stunden der Andacht, Titel eines Werkes, das religiöse Erbauung bezweckte, zuerst 1818 bei Sauerländer in Aarau in 8 Bänden herauskam, seitdem in vielen Auflagen unter den höheren u. mittleren Schichten der Gesellschaft verbreitet wurde u. noch gegenwärtig bei den meisten derjenigen Protestanten u. Katholiken beliebt ist, die von positiver Religion wenig od. nichts wissen u. wissen wollen. Der große Erfolg der Schrift ist leicht begreiflich; sie predigt einen Gott, der pure sentimentale Liebe ist, einen Erlöser, der ähnlich wie weiland Sokrates lediglich als Muster sittlicher Vollkommenheit und als Märtyrer der Menschheit dasteht, weiß blutwenig von der Bedeutung u. dem furchtbaren Fluche der Sünde, noch weniger von der Sündhaftigkeit der menschlichen Natur u. gar nichts davon, daß es ohne positives Christen- und Kirchenthum eine wahre und verdienstliche Sittlichkeit weder gibt noch geben kann. Eine so beruhigende und bequeme Religion wie die der S. d. A. mußte Tausenden und aber Tausenden um so besser munden, weil der Hauch religiöser Begeisterung und Friedfertigkeit im pantheistischen Sinne des Worts das Ganze durchzieht und die Darstellung nicht selten zur poetischen Schönheit sich erhebt. Indem der Verfasser eine Reihe von Jahren anonym blieb, beförderte er die Verbreitung des Buches unter allen christlichen Confessionen, vielfach hielt man einen kath. Geistlichen, G. V. Keller (s. d.) für den Urheber desselben, bis endlich H. Zschokke in seiner Selbstschau sich als solchen bekannte. Je mehr seit den Dreißigerjahren der religiöse Indifferentismus verschwand, desto entschiedener und zahlreicher mußte auch die Opposition gegen die S. d. A. sich erheben; hatte man diese früher nachgeahmt z.B. S. d. A. für Israeliten geschrieben, so wurden jetzt von kath. Seite (zuerst von Silbert) wie von prot. entgegengesetzte Werke veröffentlicht.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1857, Band 5, S. 364.
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