Zahl

[697] Zahl heißt die durch die synthetische Tätigkeit des Bewußtseins hergestellte Zusammenfassung gleichartiger Gegenstände (Einheiten) zu einer die Teile und das Ganze ausdrückenden Verbindung. Die Zahl ist nicht die Anschauung oder die Vorstellung oder der Begriff eines empirischen Objektes, und sie enthält auch keine Bestimmung der Substanz oder der Beschaffenheit eines Objektes. Im Zahlbegriff fehlt aber auch ferner jede Beziehung auf ein Nach- und Nebeneinander, auf Raum und Zeit oder auf ein kausales Verhältnis. In ihm liegt nur die begriffliche Zusammensetzung des Ganzen aus seinen gleichartigen Teilen. Das Zählen als psychischer Akt ist zwar eine sukzessive Verbindung unterschiedener gleichartiger Teile, und die Zahlenreihe ist ohne ein Nacheinander unmöglich; aber in der fertigen Zahl liegt die Sukzession nicht. So wenig die Nadel, die das Kleid genäht hat, ein Teil des fertigen Gewandes ist, ebensowenig ist die Zeit, die zum Zählen gehört, ein Teil des fertigen Zahlbegriffs. Die Zahl ist vielmehr abstrakter als alle Zeit- und Raumbegriffe. Kant (1724-1804) hat daher eine falsche Lehre aufgestellt, wenn er behauptet hat, daß die Zahl Zeitanschauung in sich einschließe und daß die Arithmetik die Wissenschaft der reinen Zeit sei, wie die Geometrie die Wissenschaft des reinen Raumes ist. Gerade auf der Unabhängigkeit der Zahl von Zeit und Raum beruht die allgemeine Verwendbarkeit der Zahl. Arithmetik ist die relativ reinste mathematische Vernunftwissenschaft. Nur bei der Erwerbung des Zahlbegriffes bedarf das Kind der Erfahrung und Anschauung. Der erworbene Zahlbegriff entwickelt sich dann aber nach seinen eigenen Gesetzen[697] auf das reichste weiter. – Die Zahl ist entweder bestimmt (1, 2, 3 usw.) oder allgemein (a, b, c usw.). Durch die Rechnungsarten entwickelt sich eine Fülle von Zahlarten: positive, negative, ganze, gebrochene, rationale, irrationale, reelle, imaginäre, algebraische, transscendente usw., und es gipfelt der Zahlbegriff jetzt in dem Begriff der komplexen Zahl a ± ib. Um die Klärung über das Wesen der Zahl haben sich in neuerer Zeit besonders verdient gemacht: Weierstraß, Dedekind, Cantor und Kronecker. Die Wissenschaft von der Zähl ist die Arithmetik. Sie ist ihrem Wesen nach nicht analytisch wie die Logik, sondern synthetisch und beruht auf einer Art schöpferischer Kraft des Bewußtseins, die Kant nicht ganz richtig mit den Namen »Konstruktion in der Anschauung« bezeichnete. Ihr Verfahren besteht in einer rekurrierenden Schlußweise, die in eine einzige Formel eine unendliche Anzahl von Syllogismen zusammendrängt und auf eine Geisteskraft hinweist,.welche der unendlichen Wiederholung ein und desselben Schrittes fähig ist, wenn dieser Schritt einmal als möglich erkannt ist. Die Arithmetik kommt also durch Konstruktionen, nicht aber durch Konstruktionen in der Anschauung, vorwärts und konstruiert schrittweise immer verwickeltere Kombinationen, um alle möglichen Formen der Zusammensetzung eines Ganzen aus seinen Teilen zu entwickeln. An das Zählen schließt sich die Addition, an diese die Multiplikation und an diese die Potenzierung an. Rückwärtszählen, Subtrahieren, Dividieren (Teilen und Messen), Radizieren und Logarithmieren bilden die inversen Operationen. Aus diesen Operationen erwächst alle Gestaltung des Zahlbegriffs. Die Arithmetik ist unter allen mathematischen Wissenschaften die unentbehrlichste, allgemeinste und grundlegendste. Pythagoras hat der Zahl sogar metaphysische Bedeutung zu geben versucht und in ihr das Wesen der Dinge gesehen. Doch geschah dies zu Unrecht; denn die Zahl ist ein Begriffsgebilde aber nicht das Ding an sich. Vgl. C. Michaëlis, Über Kants Zahlbegriff. Berlin 1884. Über Stuart Mills Zahlbegriff. Berlin 1888. Max Simon, Didaktik und Methodik des Rechnen-, Mathematik- und Physik-Unterrichts. München 1895. H. Graßmann, Lehrbuch der Arithmetik. 1861. Dedekind, Was sind und was sollen die Zahlen? Braunschweig 1888. v. Helmholtz, Zählen und Messen, erkenntnistheoretisch bearbeitet. 1887. (Wiss. Abhandl. Bd. 3, S. 356 ff.). [698] Kronecker, Über den Zahlbegriff (Crelles Journal Bd. 101). Tannery, Leçons d'arithmétique thèorique et pratique. Paris 1894. H. Poincaré, Science et hypothèse, deutsch von F. und L. Lindemann. Leipzig 1904 (I. Zahl und Größe).

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 697-699.
Lizenz:
Faksimiles:
697 | 698 | 699
Kategorien: