Maurertugend

[232] Wie heißt die Schöne, die man bald

Als eine runzlichte Matrone,

Bald schön bekränzt mit Rosen malt,

Und bald mit einer Dornenkrone?


Sie selbst bleibt immer jung und schön,

Wird nie dem Zahn der Zeit, zur Beute,

So schön sie Adam hat geseh'n,

So schön erscheint sie uns noch heute.


Ihr ganzer Reiz ist bloß Natur,

Nie darf die Kunst sich beigesellen;

Die feinste Schminke würde nur,

Statt zu verschönern, sie entstellen.


Nett ist der Anzug, den sie trägt,

Doch ohne Pracht und ohne Schimmer,

Und ihren schönen Busen deckt,

Ein Strauß bescheid'ner Veilchen immer.
[232]

Trotz ihrer Jugend zeigt sie nie

Aufrichtig Liebenden sich blöde,

Trotz ihrer Klugheit findet sie

Auch keiner ihrer Freier spröde.


Sie will von Jedermann geliebt,

Von Jedermann gesuchet werden,

Und jedem, der sich ihr ergibt,

Ist sie ein Himmelreich auf Erden.


Sie ist nicht mürrisch von Natur,

Die Sanftmuth ist ihr angeboren:

Sie poltert nie, sie flüstert nur

Dem Ungetreuen in die Ohren.


Sie ist nicht unstät, und vergißt

Deß', der sie liebt, zu keiner Stunde,

Sie führt ihn bis an's Grab, und küßt

Den letzten Seufzer ihm vom Munde.


Sie ist nicht eitel, spricht nicht viel,

Läßt nur im Stillen sich umarmen,

Und wer zur Schau sie führen will,

Dem windet sie sich aus den Armen.


Auch hegt sie keinen Stolz, und freit

Nicht nach Geburt und Ehrentitel:

Sie liebt den Mann im Purpurkleid

Nicht mehr, als den im Bauernkittel.


Kein Eigensinn lenkt ihre Wahl,

Sie liebt den Christen, wie den Heiden,

Und weiß den Menschen überall

Von seiner Liverei zu scheiden.


Sie macht stets froh und nie betrübt,

D'rum zählt sie auch ein Heer von Freuden,

Sie wird in Ost und West geliebt,

Geliebt sogar von ihren Feinden.
[233]

Hat wer dies Mädchen je gekannt,

So wird er auch die Tugend kennen:

Dem Maurer ist sie wohl bekannt, –

Sie läßt von ihm sich Schwester nennen.

Quelle:
Aloys Blumauer: Sämmtliche Gedichte. München 1830, S. 232-234.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Gellert, Christian Fürchtegott

Die Betschwester. Lustspiel

Die Betschwester. Lustspiel

Simon lernt Lorchen kennen als er um ihre Freundin Christianchen wirbt, deren Mutter - eine heuchlerische Frömmlerin - sie zu einem weltfremden Einfaltspinsel erzogen hat. Simon schwankt zwischen den Freundinnen bis schließlich alles doch ganz anders kommt.

52 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon