[Du Herrlicher! den kaum die Zeit erkannt]

[229] Du Herrlicher! den kaum die Zeit erkannt,

Der wie ein schuldlos Kind

Begeistert fromm die treue keusche Hand

Nach Gottes Flamme streckte,

Der für das Eitle blind

Ohn' umzuschaun zur Wiege alter Kunst

Durch neuer Lüge Götzentempel drang,

Und stillanschaund die Göttliche erweckte.

Sie lächelte und nannte dich den Ihren,

Der ihr die ird'schen Kränze so bedeutend schlang

Und wollte dich, mit ihr zu triumphieren

Zum sel'gen Born von allem Lichte führen.


Wer dich geliebt, verstand den schönen Traum,

Den du im Himmel träumtest, dessen Schatten[229]

Auf unsrer dunklen Erde lichten Saum

Weissagend niederfiel. –

Dein Künstlerwerk, es schien ein zierlich Spiel,

Es rankte blumig auf und betend vor der Sonne

Setzt fromme Kindlein du in süßer Kelche Wonne;

Doch wie im Frühlingstaumel fromm ein Herz

Das Siegsgepräng' des ew'gen Gottes liest,

Wie in des Lebens ernstem Blumenscherz

Dem Schauenden die Tiefe sich erschließt,

So steht, die Schwester dieser sündentrunknen Zeit,

Vor deinen Bildern glaubend, hoffend, liebend, die Beschaulichkeit.


O trauert nicht um seinen frühen Tod!

Er lebte nicht, er war ein Morgenrot,

Das in der Zeiten trauriger Verwirrung

Zu früh uns guter Tage Hoffnung bot,

Wer dieser Blüte Früchte konnte ahnen,

Der mußte tief bewußt der eigenen Verirrung,

Der eignen Armut sich beschämend mahnen;

So mußt' auch ich, wenn ich sein Werk durchdachte,

Das wie ein Gottentzückter selig lachte,

Zu mir, bewegt in ernster Demut sagen:

Wie sollen die Vollendung wir ertragen?

Und auf dem Babylon rings sah ich ragen,

Die Kreuze frech, den Helden dran zu schlagen.


O trauert nicht um seinen frühen Tod!

Er lebte nicht, er war ein Abendrot,

Verspätet aus verlornen Paradiesen

Ließ täuschend es in unsrer Nächte Not

Die ahndungsreichen Schimmer fließen.


Und wer an seinem Grabe eine Nacht

In Tränen harrt, bis daß der Tag erwacht,

Den seines Lebens Morgenstern verhieß,

Der wird, ist er ein Kind, den Morgen kaum erleben,

Ist er ein frommer Mann, mit ihm, der uns verließ,

Im Tode nur zum neuen Tage schweben.[230]

Die Zeit, sie ist die Nacht, in der wir weinen,

Der Vorzeit Traum, er ist's, den wir verloren,

Der Nachwelt, wird der Tag ihr einst erscheinen,

Lebt unser Freund auf ewig – mir ist er geboren.


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 229-231.
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