[Wie steigst Du so ganz leise]

[36] Wie steigst Du so ganz leise

Still aus der Erd' heraus

Und lischst das schöne, weiße,

Hell Tageslichtlein aus.


Du machst das ganze Leben

So dunkel und so tot;

Willst mir wohl Ruhe geben,

Und trösten meine Not?


Da bist Du gar betrogen,

Giebst Dir verlorne Müh';

Den aus der Not gezogen,

Hat keine mich, als sie,


Die jetzt in stillen Stunden

Mein kleines Bildnis schaut,

Der Liebe zu gesunden,

Manch Hoffnungsschloß erbaut.


Die treue Lieb' bewachet,

Hat schwärzer Haar als Du,

Und ihre Sternlein machet

Sie jetzo balde zu.


Ich geh' in stillen Gründen,

Mein' Liebe sinnt von ihr[36]

Viel Blumen; daraus winden

Ich will ein Kränzlein mir.


Die Blümlein sind Gedanken,

Die schnelle all vergehn;

Doch eins hab' ich zu danken,

Das bleibet ewig stehn;


Ich hab' ein schön Geschmeide

Mit wundersamer Kraft,

Das alles Glück und Freude

Mir bald zu Diensten schafft.


Wohnt doch die Wahrheit drinnen,

Und zweifeln kann ich nicht,

Weil hell zu meinen Sinnen

Die Wunderblume spricht.


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 36-37.
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