Liebe und Leidenschaft

[86] Auch die Leidenschaft erwacht zu ganzer Gewalt erst mit der ganzen Liebe. Ganze Liebe ist auch ganze Sinnlichkeit; aber sie ist geweiht durch die Versenkung der Seelen ineinander, durch den Verzicht auf selbstischen Genuß. Dieser Drang, im Andern aufzugehen, ist dem Weibe eigentümlich; der Mann erwirbt ihn vom Weibe, durch das Weib. Und so liegt ein gewaltiges[86] Stück Entsagung in der höchsten Liebe des Mannes zum Weibe. Das Weib ist selbstlos in seiner Liebe; aber der Mann ist selbstloser, denn er muß es erst werden. Dem Weibe birgt in jedem Augenblick die Liebe alle Erfüllung in sich; der Mann entäußert sich seiner, ehe sie sich erfüllt, eh' seine Leidenschaft zu Liebe wird. Darum aber auch erlöst den Mann die Liebe zur Vollentfaltung seiner Kräfte; das Weib bleibt in der Liebe ruhen.

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Richard Dehmel: Erlösungen, Stuttgart 1891, S. 86-87.
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