Am Sonntage nach Weihnachten

[710] Seine Eltern wunderten sich. – Das Kind aber wuchs heran und ward gestärket, voll der Weisheit, und Gottes Gnade war mit ihm. – »Siehe, deine Seele wird ein Schwert durchdringen.« – Und sie war eine Witwe, bei 84 Jahren, die nicht vom Tempel kam, und sie dienete Gott Tag und Nacht, mit Fasten und Beten.


An Jahren reif und an Geschicke

Blieb ich ein Kind vor Gottes Augen,

Ein schlimmes Kind, voll schwacher Tücke,

Die selber mir zu schaden taugen.

Nicht hat Erfahrung mich bereichert;

Wüst ist mein Kopf, der Busen leer;

Ach! keine Frucht hab' ich gespeichert

Und schau auch keine Saaten mehr!


Ging so die teure Zeit verloren,

Die über Hoffen zugegeben

Dem Wesen, was noch kaum geboren

Schon schmerzlich kämpfte um sein Leben!

Ich, die den Tod seit Jahren fühle

Sich langsam nagend bis ans Herz,

Weh mir! ich treibe Kinderspiele,

Als sei der Sarg ein Mummenscherz.


In siechen Kindes Haupte dämmert

Das unverstandne Mißbehagen;

So wenn der Grabwurm lauter hämmert

Fühl' bänger ich die Pulse schlagen.

Dann bricht hervor das matte Stöhnen,

Der kranke, schmerzgedämpfte Schrei;[710]

Ich lange mit des Wurmes Dehnen

Sehnsüchtig nach der Arzenei.


Doch wenn ein frischer Hauch die welke

Todsieche Nessel hat berühret:

Dann hält sie sich wie Ros' und Nelke

Und meint sich königlich gezieret.

O Leichtsinn, Leichtsinn sondergleichen

Als ob kein Seufzer ihn gestört!

Und doch muß ich vor Gram erbleichen,

Durch meine Seele ging ein Schwert.


Wer mußt' so vieles Leid erfahren

An Körpernot und Seelenleiden

Und dennoch in so langen Jahren

Sich von der Welt nicht mochte scheiden?

Ob er als Frevler sich dem Rade,

Als Tor geselle sich dem Spott:

O sei barmherzig ew'ge Gnade,

Richt' ihn als Toren milder Gott!


Du hast sein siedend Hirn gebildet,

Der Nerven rastlos flatternd Spielen

Nicht von gesundem Blut geschildet;

Weißt seine dumpfe Angst zu fühlen,

Wenn er sich windet unter Schlingen,

Zu mächtig ihm, und doch verhaßt,

Er gern ein Opfer möchte bringen,

Wenn es nur seine Hand erfaßt.


Was Sünde war, du wirst es richten,

Und meine Strafe muß ich tragen;

Und was Verwirrung wirst du schlichten

Weit gnäd'ger, als ich dürfte sagen.

Wenn klar das Haupt, die Fäden löser,

Was dann mein Teil, ich weiß es nicht;

Jetzt kann ich stammeln nur: Erlöser!

Ich gebe mich in dein Gericht!
[711]

Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 710-712.
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