Am zweiten Weihnachtstage

(Stephanus)

[708] »Jerusalem! Jerusalem! die du tötest die Propheten, und stein'gest die zu dir gesandt sind, wie oft habe ich dich versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein versammelt unter ihre Flügel, und du hast nicht gewollt! Siehe! euer Haus wird euch wüste gelassen werden, denn ich sage euch, ihr werdet mich von nun an nicht mehr sehen, bis ihr saget: 'Gebenedeit ist der da kömmt im Namen des Herrn!'« – Und die Zeugen legten ihre Kleider ab, zu den Füßen eines Jünglings, der Saulus hieß.


Jerusalem! Jerusalem!

Wie oft erschollen ist sein Ruf;

Du spieltest sorglos unter dem

Verderben, unter Rosses Huf

Und Rades Wucht, schau! darum ist

Verödet deine Stätte worden.

Und du ein irres Küchlein bist,

Sich duckend unter Geierhorden.


Vorüber ist die heil'ge Zeit,

Wo deinen Sinnen er bekannt

Und seiner Wunder Herrlichkeit

Zieht nur als Sage durch das Land.

Der Weise wiegt sein schweres Haupt,

Der Tor will dessen sich entschlagen,

Und nur die fromme Einfalt glaubt

Und mag die Opfergabe tragen.


O bringt sie nur ein willig Tun,

Ein treues Kämpfen zum Altar,

Dann wird auf ihr die Gnade ruhn,

Ein innres Wunder, ewig klar.

Doch ist es so, der Gegenwart

Gebrochen sind gewalt'ge Stützen,

Seit unsern Sinnen trüb und hart

Verhüllt ward seiner Zeichen Blitzen.


War einst erhellt der schwanke Steg,

Und klaffte klar der Abgrund auf,[708]

Wir müssen suchen unsern Weg

Im Heiderauch ein armer Hauf.

Des Glaubens köstlich teurer Preis

Ward wie gestellt auf Gletschers Höhen;

Wir müssen klimmen über Eis

Und schwindelnd uns am Schlunde drehen.


Was, Herr, du ließest fort und fort,

Hat uns die Seele wohl gebrannt;

Doch bleibt es ein geschriebnes Wort,

Unsichtbar die lebend'ge Hand.

Ach nur wo Grübeln nicht und Stolz

Am Stamme nagt seit Tag und Jahren,

Blieb frisch genug das mark'ge Holz,

Frei durch Jahrtausende zu fahren.


So ist es, wehe, schrecklich wahr,

Daß mancher, wie zum starken Mast

Geschaffen, in der Zeit Gefahr

Die Glaubenssegel hat gebraßt,

Nun, dürre Säule, nackt und schwer

Nur krachend kündet durch das Wehen,

Hier sei in Zweifels wüstem Meer

Ein wuchtig Schiff am Untergehen!


O sende, Retter, deinen Blitz,

Der ihm den frommen Hafen hellt,

Wo einst der starke Mast als Sitz

Der Pharuslampe sei gestellt;

Es trägt Gebirge ja dein Land,

Wo Zedern sich zu Zedern einen,

Laß nicht ein Sturmlicht den Verstand

Und einen Fluch die Kraft erscheinen!


Als Stephanus mit seinem Blut

Besiegelte den Christussinn,

Da legten Mörder heiß vor Wut

Zu eines Jünglings Füßen hin,[709]

Der stumm und finster sich gesellt,

Die Kleider staubig, schweißbefeuchtet;

Und der ward Paulus, Christi Held,

Des Strahl die ganze Welt durchleuchtet.


Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 708-710.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Aristophanes

Die Wolken. (Nephelai)

Die Wolken. (Nephelai)

Aristophanes hielt die Wolken für sein gelungenstes Werk und war entsprechend enttäuscht als sie bei den Dionysien des Jahres 423 v. Chr. nur den dritten Platz belegten. Ein Spottstück auf das damals neumodische, vermeintliche Wissen derer, die »die schlechtere Sache zur besseren« machen.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon