Am letzten Tage des Jahres

(Silvester)

[712] Das Jahr geht um,

Der Faden rollt sich sausend ab.

Ein Stündchen noch, das letzte heut,

Und stäubend rieselt in sein Grab

Was einstens war lebend'ge Zeit.

Ich harre stumm.


's ist tiefe Nacht!

Ob wohl ein Auge offen noch?

In diesen Mauern rüttelt dein

Verrinnen, Zeit! Mir schaudert, doch

Es will die letzte Stunde sein

Einsam durchwacht.


Gesehen all,

Was ich begangen und gedacht,

Was mir aus Haupt und Herzen stieg:

Das steht nun eine ernste Wacht

Am Himmelstor. O halber Sieg,

O schwerer Fall!


Wie reißt der Wind

Am Fensterkreuze, ja es will

Auf Sturmesfittigen das Jahr

Zerstäuben, nicht ein Schatten still

Verhauchen unterm Sternenklar.

Du Sündenkind!


War nicht ein hohl

Und heimlich Sausen jeder Tag

In deiner wüsten Brust Verlies,

Wo langsam Stein an Stein zerbrach,

Wenn es den kalten Odem stieß

Vom starren Pol?
[712]

Mein Lämpchen will

Verlöschen, und begierig saugt

Der Docht den letzten Tropfen Öl.

Ist so mein Leben auch verraucht,

Eröffnet sich des Grabes Höhl'

Mir schwarz und still?


Wohl in dem Kreis,

Den dieses Jahres Lauf umzieht,

Mein Leben bricht: Ich wußt' es lang!

Und dennoch hat dies Herz geglüht

In eitler Leidenschaften Drang.

Mir brüht der Schweiß


Der tiefsten Angst

Auf Stirn und Hand! – Wie, dämmert feucht

Ein Stern dort durch die Wolken nicht?

Wär' es der Liebe Stern vielleicht,

Dir zürnend mit dem trüben Licht,

Daß du so bangst?


Horch, welch Gesumm?

Und wieder? Sterbemelodie!

Die Glocke regt den ehrnen Mund.

O Herr! ich falle auf das Knie:

Sei gnädig meiner letzten Stund!

Das Jahr ist um!
[713]

Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 712-714.
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