Am neunzehnten Sonntage nach Pfingsten

[673] Ev.: Vom vornehmsten Gebote.

»Du sollst den Herrn deinen Gott aus deinem ganzen Herzen, und aus deiner ganzen Seele, und aus deinem ganzen Gemüte lieben, dies ist das erste und vornehmste Gebot; das andre aber ist diesem gleich, du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, an diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.«


Ob ich dich liebe, Gott, es ist

Mir unbewußt.

Oft mein' ich, daß nur du es bist,

Was diese Brust

In aller andrer Liebe Schein

Und dämmerndem Verlangen

Wie eine Sühnungsfackel rein

Hält gnadenvoll umfangen.


Wenn zu dem Edelsten der Geist

Sich frei erhebt,

Was als Gedanke ihn umkreist

Und dennoch lebt,

Unsichtbar, wesenlos doch nicht,

Fern, dennoch allerwegen,

Wes Spur aus Menschenauge spricht

Und aus der Träne Segen:


Dann bin ich wohlgetröstet und

Gebet entsteigt

So zuversichtlich meinem Mund,

Als sei gereicht[673]

In fremder oder deiner Lieb'

– Wer hat es je ergründet? –

All was dem echten Sehnen lieb,

Und deinen Odem kündet.


Doch fühl' ich dann zu andrer Zeit

Wie Haar dem Haupt

Der finstren Erde mich geweiht,

So machtberaubt;

Wenn in dem Freunde mich entzückt

Selbst wie ein Reiz das Fehlen,

Die Schwächen, an mein Herz gedrückt,

Mir keiner dürfte stehlen:


Da wär' es Gottes Zeichen nur

Was ich erkannt,

Und nicht die sündige Natur

Böt' ihre Hand,

Wenn der Geliebten Tugend ich

In Ehrfurcht mag ertragen,

Doch fleckenloser sicherlich

Mein Herz würd' kälter schlagen?


Weh! eine kalte Wolke fährt

Es über mich,

Wie dem Damokles unterm Schwert

Die Wange blich,

Wie einem, der an Ufers Rand

Sich spiegelt, lächelt, trinket,

Wenn sacht entschlüpft der falsche Sand

Und seine Stätte sinket.


O Retter, Retter, der auch für

Die Toren litt,

Erscheine, eh die Welle mir

Zum Haupte glitt![674]

Greif aus mit deiner starken Hand,

Noch kämpf' ich gen die Wogen;

So manchen hast du ja ans Land

Aus tiefem Schlamm gezogen!


Hab' ich dem Schlamme mich entwirrt,

So ganz und recht,

Dann erst zu deinem Bildnis wird

Die Sehnsucht echt;

Dann darf ich lieben stark, gesund,

Ohn' alle Schmach und Hehle

Aus meines ganzen Herzens Grund

Und meiner ganzen Seele.


Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 673-675.
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