Fastnacht

[584] Ev.: Vom Blinden am Wege.


Herr, gib mir, daß ich sehe!

Ich weiß es, daß der Tag ist aufgegangen;

Im klaren Osten stehn fünf blut'ge Sonnen,

Und daß das Morgenrot mit stillem Prangen

Sich spiegelt in der Herzen hellen Bronnen;

Ich sehe nicht, ich fühle seine Nähe.

Herr, gib mir, daß ich sehe!


Und wie ich einsam stehe:

Sich um mich regt ein mannigfaches Klingen;

Ein jeder will ein lichtes Plätzchen finden,

Und alle von der Lust der Sonnen singen.

Ich nimmer kann die Herrlichkeit ergründen,

Und wird mir nur ein unergründlich Wehe.

Herr, gib mir, daß ich sehe!
[584]

Wie ich die Augen drehe,

Verlangend, durch der Lüfte weite Reiche,

Und meine doch ein Schimmer müsse fallen

In ihrer armen Kreise öde Bleiche,

Weil deine Strahlen mächtig doch vor allen:

Doch fester schließt die Rinde sich, die zähe.

Herr, gib mir, daß ich sehe!


Gleich dem getroffnen Rehe

Möcht' ich um Hülfe rennen durch die Erde;

Doch kann ich nimmer deine Wege finden.

Ich weiß, daß ich im Moor versinken werde,

Wenn nicht der Wolf zuvor verschlang den Blinden;

Auch droht des Stolzes Klippe mir, die jähe.

Herr, gib mir, daß ich sehe!


So bleib' ich auf der Höhe,

Wo du zum Schutz gezogen um die Deinen

Des frommen Glaubens zarte Ätherhalle,

Worin so klar die roten Sonnen scheinen,

Und harre, daß dein Tau vom Himmel falle,

Worin ich meine kranken Augen bähe.

Herr, gib mir, daß ich sehe!


Wie sich die Nacht auch blähe,

Als sei ich ihrer schwarzen Macht verbündet,

Weil mir verschlossen deine Strahlenfluten:

Hat sich doch ihre Nähe mir verkündet,

Empfind' ich doch, wie lieblich ihre Gluten!

So weiß ich, daß ich nicht vergeblich flehe.

Herr, gib mir, daß ich sehe!


Und wie mich mancher schmähe,

Als soll' ich nie zu deinem Strahl gelangen,

Dieweil ich meine Blindheit selbst verschuldet,

Da ich in meiner Kräfte üpp'gem Prangen

Ein furchtbar blendend Feuerlicht geduldet,[585]

Mir sei schon recht, und wer gesät der mähe:

Herr, gib mir, daß ich sehe!


Herr, wie du willst, geschehe!

Doch nicht von deinem Antlitz will ich gehen;

In diesen Tagen wo die Nacht regieret,

Will ich allein in deinem Tempel stehen

Von ihrem kalten Zepter unberühret,

Ob ich den Funken deiner Huld erspähe.

Herr, gib mir, daß ich sehe!


Daß mich dein Glanz umwehe,

Das fühl' ich wohl durch alle meine Glieder,

Die sich in schauderndem Verlangen regen.

O milder Herr, sieh mit Erbarmen nieder!

Kann ein unendlich Flehn dich nicht bewegen?

Ob auch der Hahn zum dritten Male krähe,

Herr, gib mir, daß ich sehe!


Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 584-586.
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