[61] Mel.: Steh' ich in finsterer etc.
Ich bin der alte Ahasver
Ich wandre hin, ich wandre her,
Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer,
Ich finde sie nimmer und nimmermehr.
Es brüllt der Sturm, es rauscht das Wehr,
Nicht sterben können, o Malheur!
Mein Haupt ist müd, mein Herz ist leer,
Ich bin der alte Ahasver.
Es brummt der Ochs, es tanzt der Bär,
Ich finde sie nimmer und nimmermehr,
Ich bin der ewige Hebrä'r,
Meine Ruh ist hin, ich streck's Gewehr.
[61] 
Mich hetzt und jagt, ich weiß nicht wer,
Ich wandre hin, ich wandre her,
Zu schlafen hab' ich sehr Begehr,
Ich bin der alte Ahasver.
Ich komme wie von Ohngefähr,
Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer.
Ich fahre über Land und Meer,
Ich wandre hin, ich wandre her.
Mein alter Magen knurret sehr,
Ich bin der alte Ahasver,
Ich wandre in die Kreuz und Quer,
Ich finde sie nimmer und nimmermehr.
Ich lehne an die Wand den Speer,
Ich habe keine Ruhe mehr,
Ich schweife nach der Pendellehr',
Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer.
Schon lang ist's, daß ich übelhör',
Küraçao ist ein fein Likör,
Ich finde keine Ruhe mehr,
Einst war ich unterm Militär.
Ich zahle stets, was ich verzehr'
Und wandre hin und wandre her,
Ich bin der alte Ahasver
Und meine Zunge sieht nicht mehr.
Salvatorbier ich hoch verehr',
Ich finde sie nimmer und nimmermehr,
Vielleicht noch werd' ich Missionär,
Meine Ruh ist hin, mein Herz ist leer.
[62] 
Wer hindert, daß ich aufbegehr'?
Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer,
Ich bin der alte Ahasver.
Jetzt aber weiß ich gar nichts mehr.
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Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
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