19. Die verletzte Schäferin

[413] Bittre Freude, süßes Leid,

was ists, das bleibt allezeit?

Du nur bleibst auf deinem Sinne,

o verletzte Schäferinne!


Hitze, Kälte, Tag und Nacht

sind auf Wechsel stets bedacht;

Früling, Sommer, Herbst und Winter

stoßen stets einander hinter.


Bittre Freude, süßes Leid,

was ists, das bleibt allezeit?

Du nur bleibst auf deinem Sinne,

o verletzte Schäferinne!


Regen, Stürme, Schnee und Schein

sagen, daß sie flüchtig sein;

Glut und Luft und Flut und Erden

sind stets nichts, daß sie was werden.


Bittre Freude, süßes Leid,

was ists, das bleibt allezeit?

Du nur bleibst auf deinem Sinne,

o verletzte Schäferinne!


Unser Leib und was dran ist

schleißt hin, wie du täglich siehst.

Was du, Liebste, hast verloren,

wars zur Ewigkeit geboren?


Bittre Freude, süßes Leid,

was ists, das bleibt allezeit?

Du nur bleibst auf deinem Sinne,

o verletzte Schäferinne!


Geben, Schöne, kan ich dir,

was du hast genommen mir.

Was hab' ich dir können nehmen,

daß du dich so müßtest schämen?


Bittre Freude, süßes Leid,

nichts ist, das bleibt allezeit.[413]

Du nur bleibst auf deinem Sinne,

o verletzte Schäferinne!


Es ist nur ein bloßer Wahn,

daß man uns drum schelten kan.

Laß uns nehmen, laß uns geben,

was uns giebt und nimmt das Leben!


Bittre Freude, süßes Leid,

was ists, das bleibt allezeit?

Du nur bleibst auf deinem Sinne,

o verletzte Schäferinne!


Zwar, was lieb ist, das bringt Leid,

wenn es folgt der Flucht der Zeit.

Aber wir sind allen Schätzen,

weil wir noch sein, vorzusetzen.


Bittre Freude, süßes Leid,

was ists, das bleibt allezeit?

Du nur bleibst auf deinem Sinne,

o verletzte Schäferinne!


Was sich einmal von uns bricht,

um das kömt man zweimal nicht.

Komme, laß uns ferner lieben!

Lieben steht stets frei zu üben.


Bittre Freude, süßes Leid,

was ists, das bleibt allezeit?

Du nur bleibst auf deinem Sinne,

o verletzte Schäferinne!


Brauche deiner Schönheit Frucht!

Sie und du sein aus der Flucht.

Diß, um was du dich betrübest,

ist doch, was du dennoch liebest.


Bittre Freude, süßes Leid,

Nichts ist, das bleibt allezeit.

So gebeut nun deinem Sinne,

o versöhnte Schäferinne!


Quelle:
Paul Fleming: Deutsche Gedichte, Band 1 und 2, Stuttgart 1865, S. 413-414.
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