|
[96] [96] Auf das Absterben eines Studiosi
Ein Mensch, der mit Begier nach freyen Künsten strebt,
Trägt wohl, so lang er noch auf hohen Schulen lebt,
Vor seinen Wechselbrief die allergrösten Sorgen;
Der Kummer, den er hat, ist seiner Eltern Geld,
Zumahl wenn ihm der Muth aus leeren Beutheln fällt
Und Koch und Schneider ihm die lezte Nothdurft borgen.
Hat er nunmehr verthan, was ihm der Mutter Hand,
Als sie den lieben Sohn mit Thränen fortgesand,
Verstohlen auf der Flucht in alle Ficken steckte,
So geht die Noth an Mann, so stüzt er Kopf und Arm,
Verriegelt Thür und Schloß, macht Stuhl und Seßel warm
Und sizt so finster da, als wenn er Grillen heckte.
Er lauft den Kutschen zu, die er beladen spürt,
Rennt täglich auf die Post und list und buchstabirt
Fast vierundzwanzigmahl die Nahmen aller Charten.
Zwey Fest im Jahre sind, die ihn gewis erfreun:
Er weis, daß Michael und Ostern Tröster seyn;
Nur dieses thut ihm weh: Er soll so lange warthen.
Hingegen schickt es sich, daß der verlangte Gast,
Den er so wie ein Bär den Bienenzucker hast,
Von Hause wieder kommt und wilde Männer bringet,
Da wacht und lebt der Pursch, da zieht der Kummer aus,
Und es erfährt es oft des sechsten Nachbars Haus,
Wie seine Fröhligkeit durch alle Fenster singet.
Wir wißen, Seeligster, daß jezt die Tadelsucht
Dies ungereimte Blat, wie sie es nennt, verflucht,
Weil es bey deiner Gruft, um die es weinen sollte,
Mit halbem Scherz erscheint. Doch wißen wir auch dies:
Du selber billigst es und straftest den gewis,
Der deinen Vortheil nun mit Thränen stören wollte.
[97]
Denn jezt, nachdem dein Fuß, der hurtig Abschied nahm
Und ohn Verhofen nechst geschwächt zurücke kam,
Den Weg nach Halle nimmt, den Wechsel dort zu heben,
So zahlt des Himmels Gunst dir durch des Todes Hand
Noch einen reichern aus, als deine Reise fand,
Die dir Gelegenheit zur lezten Fahrt gegeben.
Dies ist der Gnadenlohn der Zeiten ohne Zeit,
Der Reichthum jener Welt, allwo die Eitelkeit
Nicht böse Wahren führt, noch falsche Münze präget.
Die Lage, so du giebst, ist warlich klein und schlecht,
Ein Leib voll Fäul und Stanck; und also heists mit Recht,
Daß oft ein kleiner Zins den grösten Wucher träget.
Wie nun ein wahrer Freund des andern Glück und Lust
Mit heitren Augen sieht, so darf aus unsrer Brust,
Der Neid thu was er will, kein Trauerlied erschallen.
Es ist bereits gemein, daß sich die Heucheley
Bey alle Baaren sezt; drum bleibt es wohl dabey:
Die meisten trauren nur der Mode zu Gefallen.
Zwar, was der Traurigkeit hier einen Schein erwirbt,
Ist, daß der Jugend Lenz dir jezt im Herbste stirbt
Und daß dein Alter nicht auf hohe Stufen kommen;
Jedoch der Spruch bleibt wahr: Wer viel gewinnen kan,
Säumt keinen Augenblick. Dies hast auch du gethan
Und lieber früh als spät den Wechsel angenommen.
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
|
Buchempfehlung
Die Brüder Atreus und Thyest töten ihren Halbbruder Chrysippos und lassen im Streit um den Thron von Mykene keine Intrige aus. Weißes Trauerspiel aus der griechischen Mythologie ist 1765 neben der Tragödie »Die Befreiung von Theben« das erste deutschsprachige Drama in fünfhebigen Jamben.
74 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro