Der 49. Psalm
Hört an, ihr Völker, hört doch an

[176] 1.

Hört an, ihr Völker, hört doch an,

Hört alle, die ihr lebet,

Arm, reich, Herr, Diener, Frau und Mann

Und was auf Erden schwebet:[176]

Mein Mund soll reden von Verstand

Und rechte Weisheit lehren;

Wir wollen, was mein Herz erfand,

Ein fein Gedichte hören

Und spielen auf der Harfen.


2.

Was sollt ich fürchten meinen Feind

In meinen bösen Tagen,

Da mich, ders böse mit mir meint,

Umgibt mit vielen Plagen,

Wann mich mein Untertreter drückt

Mit seinen Missetaten

Und sich, weil ihm sein Tun geglückt

Und alles wohl geraten,

Erhebet, pocht und prahlet?


3.

Was hilft ihm all sein Hab und Gut,

Wann sich der Tod herfindet?

Da gilt kein Geld, kein hoher Mut,

All Hilf und Rat verschwindet.

Und wenn auch gleich sein Bruder wollt

Ihm an die Seite treten,

Doch kann ihn weder rotes Gold

Noch Bruders Blut erbeten,

Er muß dem Tod herhalten.


4.

Der Tod ist gar ein treuer Mann,

Fragt nichts nach gutem Willen;

Wann einer gleich gibt, was er kann,

Noch läßt er sich nicht stillen.

Und sieht er auch schon manchem zu,

Läßt ihn viel Jahr erlangen,

Doch bricht er endlich solche Ruh,

Er kommt einmal gegangen

Und holt die alten Greisen.
[177]

5.

Denn solche Weisen müssen doch

sowohl als wie die Narren

Sich lassen in des Grabes Loch

Versenken und verscharren;

Da kommt denn, was sie an sich bracht,

In andrer Leute Hände,

Und also gehet ihre Pracht

Und Herrlichkeit zu Ende,

Viel anders, als sie wünschen.


6.

Dies ist ihr Herz, das ist ihr Sinn,

Daß ihr Haus ewig bleibe,

Ihr Ehr und Würd auch immerhin

Sich mehr und wohl erkleibe;

Noch dennoch aber können sie

Nichts überall erhalten,

Sie müssen fort und wie ein Vieh

Hinunter und erkalten.

Das ist ein töricht Wesen.


7.

Doch gleichwohl wird es hoch gerühmt

Mit Lippen der Nachkommen

Und gar nicht, wie es sich geziemt,

Zur Beßrung angenommen.

Sie liegen in der Höllen Grund

In einem bösen Schlafe,

Der Tod, der nagt sie wie ein Hund

Und wie ein Wolf die Schafe,

Die keine Hilfe haben.


8.

Die Bösen sind des Teufels Beut

Und müssen Marter leiden,

Die Frommen wird der Herr mit Freud

Im Himmelsreiche weiden.

Der Trotz der unverschämten Rott[178]

Muß brechen und vergehen,

Wer aber treu bleibt seinem Gott,

Der soll dort ewig stehen

Im Chor der Auserwählten.


9.

Darum, mein allerliebstes Kind,

Laß dich nicht irre machen,

Ob einer reich wird und mit Sünd

Erlangt viel teure Sachen;

Denn wann er stirbt, bleibt alles hier,

Er kann nichts mit sich nehmen.

Sein Herrlichkeit, sein Ehr und Zier

Verschwindet wie ein Schemen

Und will ihm nicht nachfolgen.


10.

Die Welt liebt ihren Kot und Stank,

Hält viel von schnöden Dingen.

Und also gehn sie auch den Gang,

Den ihre Väter gingen,

Und sehen hinfort nimmermehr

Das Licht, das uns ernähret;

Kurz: Wann ein Mensch hat Würd und Ehr

Und ist nicht fromm, so fähret

Er wie ein Vieh von hinnen.

Quelle:
Paul Gerhardt: Dichtungen und Schriften, München 1957, S. 176-179.
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