Das XI Hauptstück.
Von den grammatischen Figuren.

[599] 1 §.


Die lateinischen Sprachlehrer haben sich eine gute Anzahl von Kunstwörtern erdacht, womit sie gewisse Unbeständigkeiten im Reden, oder Abweichungen gewisser Mundarten, und guter Schriftsteller zu entschuldigen gesuchet. Sie haben ihnen überhaupt den schönen Namen der Figuren gegeben; und sie zum Unterschiede der rednerischen, nur grammatische genennet. Weil nun auch verschiedene deutsche Sprachlehrer ihrem Exempel gefolget sind; und einige von meinen Lesern, die solches bemerket haben, denken möchten; daß meiner Sprachlehre etwas Großes fehlete, wenn davon nichts vorkäme: so will ich meine Gedanken noch besser davon eröffnen.

2 §. Die ersten Erfinder dieser grammatischen Figuren mögen wohl die ältesten Bewunderer und Ausleger Homers, und anderer alten Dichter gewesen seyn. Denn weil man an diesen beynahe göttlichen, oder doch göttlich verehrten Männern, nichts tadelhaftes finden wollte; und gleichwohl allerley Unrichtigkeiten in Wörtern und Redensarten anmerkete, die sie größtenteils zu Erfüllung ihres Syllbenmaaßes gewaget hatten: so erdachte man sich gelehrte Namen, alle diese kleinen Fehler zu beschönigen; ja wohl gar in Tugenden zu verwandeln: wie etwa die hitzigen Liebhaber auch die Mäler und Narben ihrer Schönen, sich als Schönheiten derselben vorzustellen, und einzubilden pflegen. Selbst Aristoteles in seiner Dichtkunst, entschuldiget sowohl den [599] Homer, als die tragischen Dichter, wegen solcher Fehler; und behauptet wider alle Wahrscheinlichkeit: sie hätten dieselben zu desto größerer Schönheit ihrer Gedichte machen müssen.

3 §. Es lassen sich aber diese sämmtlichen Figuren in drey Gattungen eintheilen. Die erste verlängert, die andere verkürzet die Wörter; die dritte verwandelt einige Buchstaben und Syllben in andere. Die Verlängerung geschieht sowohl im Anfange, als in der Mitte, und am Ende der Wörter. Die Verkürzung ist ebenfalls dreyfacher Art: und das sind also schon sechs Figuren. Nun kommen noch die Verwandlungen dazu; die auch etliche Arten ausmachen. Wir wollen sie alle nach der Reihe durchgehen, und durch Exempel zeigen, daß sie zwar im Deutschen anzutreffen, aber mehr unter die Fehler, als Schönheiten einer Sprache zu zählen sind.

4 §. Die erste Art der Verlängerung der Wörter geschieht im Anfange derselben, und heißt PROSTHESIS, deutsch ein Vorsatz. Durch diesen gelehrten Namen einer Figur nun, kann man z.E. Hans Sachsen entschuldigen, wenn er in einem bekannten Liede schreibt: Drum kann es anders nicht geseyn. Denn die Syllbe ge ist hier eine PROSTHESIS. Im Reiche sprechen einige: Er gesiehet und gehöret nichts; imgleichen ich kann ihm nicht anders gethun, u.d.gl. Doch es giebt auch noch andere Wörter bey uns, die von besserm Schrote und Korne sind; und dahin gerechnet werden können. Z.E. Hier und allhier; so und also, heim und daheim, weil und dieweil, imgleichen alldieweil; wie, und gleichwie; her, daher; hin, dahin, und d. gl. wo überall die ersten Syllben fast ein müßiger Zusatz sind, der auch wegbleiben kann. Selbst das vorfinden der Niedersachsen, ist ein solches grammatisches Blümchen zu nennen.

5 §. Die zweyte Art der Verlängerung heißt EPENTHESIS, deutsch das Einschiebsel; weil es in die Mitte etwas hineinflicket.[600] Damit pflegen sich nun noch manche Poeten zu behelfen, wenn sie eine Syllbe mehr brauchen; als Genade, Gelück, Genüge, für Gnade, Glück, Gnüge. So haben wir auch das Wort Missethat, für Misthat; und manche sagen Vollenkommenheit, für Vollkommenheit; aber ohne Noth. Dahin gehöret das r in darauf, daraus, darein, darinn, darunter u.s.w. Dahin gehöret auch das s in hoffnungsvoll, Freundschaftspflicht, da es eigentlich nicht hineingehöret; imgleichen das e in Nichtes, welches einigen Poeten bisweilen Dienste gethan hat. Ja auch das e in lobesam und löbelich ist ihnen oftmals gut zu statten gekommen. Ein jeder wird sich leicht auf mehrere Exempel besinnen.

6 §. Die dritte Art der Verlängerung ist die PARAGOGE, oder der Anhang, am Ende. Dieser hat uns vormals das nämlichen, gütlichen, endlichen, weilen, dieweilen, dahero, bishero, anhero, dannenhero, jetzunder, u.d.gl. zuwege gebracht, und aufgedrungen; da doch diese überflüßigen Zipfel überall zu nichts taugen. Das halter gewisser Oberdeutschen ist eben nicht besserer Art. Und in Meißen selbst flicket man an viele Wörter ein e, die es nicht nöthig haben, als an Glücke, Geschicke, Gereiße, und andere solche Hauptwörter des ungewissen Geschlechtes. Ja selbst bey männlichen höret man viele sagen, der Herre, Fürste, Grafe, Prophete, Poete, Narre, u.d.gl.m. die mit dem e nichts besser, klüger und größer werden, als sie sonst seyn würden. So pflegen auch einige, das ware, kame, gabe, imgleichen deme, ihme, seye, ohne alle Noth mit e zu verlängern.

7 §. Die erste Art der Verkürzung geschieht auch im Anfange des Wortes, und heißt APHAERESIS, die Enthauptung. Man beißt nämlich manchen Wörtern, in gewissen Mundarten, so zu reden, den Kopf ab; und schlechte Poeten bedienen sich solcher Kunstgriffe, die Verse desto leichter vollzustopfen. So sehen wir das 'nein, 'rein, 'nauf, 'rauf, 'nab, 'naus, 'raus, 'rab, 'runter, für hinein, herein, hinauf,[601] herauf, hinab, hinaus, heraus, herab, herunter, u.d.m. Andere sagen ring, für gering, und die Österreicher, ich hab kauft, ich bin gangen, der Dieb ist hangen worden, u.d. m: wie auch wohl die Plattdeutschen mit dem ge der vergangenen Zeit zu thun pflegen. Noch andere sagen wohl, das höret mir, für gehöret; schwind, für geschwind, u.s.w.

8 §. Die zweyte Art der Verkürzung ist SYNCOPE, die Verbeißung genannt; und laßt aus der Mitte etwas aus. So sagt man überall, drinnen, drein, draußen, drüben, für darinnen, darein, daraußen, darüben. Viele sprechen auch, hinnen, haußen, hoben, hüben, für hier innen, hier außen, hier oben, hier üben: welches letzte aber ganz falsch ist. Man spricht auch sehr häufig, hörte, nährte, währte, legte, setzte, für hörete, nährete, u.s.w. Selbst in der dritten Vergleichungsstaffel der Beywörter, saget man der größte, längste, schmälste, dickste, für größeste, längeste, schmäleste, dickeste. Und mit dem e geht dieß Verbeißen noch am ersten an; aber mit dem i will es bey weitem so gut nicht fort. Denn wenn einige mit Hans Sachsen schreiben: Und was der ew'ge güt'ge Gott, etc. so klingt es viel zu hart. Doch kann auch das e nur in gewissen Syllben nach dem eh verbissen werden; als in sehn, geschehn, wehn: aber in sagn, geborn, gefahrn, u.d.gl. will ichs keinem rathen; vielweniger in ich bin g'wesen; ich habe g'sehen; es g'schah; es ist g'wiß; wie einige Oberländer sprechen.

9 §. Die dritte Art der Verkürzung ist die APOCOPE, oder die Stutzung, da man den Wörtern den Schwanz abbeißt. Diesen Fehler begehen abermal viele gar zu freye Dichter, welche Wörter, die sich auf e endigen, gar zu gern eine Spanne kürzer haben mögen. Sie schreiben also die Gnad', die Gut', die Kron', die Seel', die Taub', wenn gleich ein Mitlauter folget: gerade wie einige oberdeutsche Landschaften sprechen. Viel erlaubter ist es, das es des ungewissen Geschlechts der Beywörter wegzulassen: z.E. es ist[602] ein groß Glück, anstatt großes; manchmal, anstatt manchesmal; ein schön Frauenzimmer, für schönes. Nur bey dem männlichen Geschlechte darf man solches nicht wagen. Manch'Mann, welch' Vater, geht unmöglich an: wenn es gleich einige alte Dichter z.E. Lohenstein, gewaget haben. Auch bey der jüngst vergangenen Zeit der verbindenden Art der Zeitwörter, stutzen einige das e gern weg: als ich wär', ich hätt', ich käm', u.d.gl. wenn gleich kein Selbstlaut folget: aber es ma chet die Sprache rauh.

10 §. Außer diesen hat man nun noch einige andere Namen erdacht, gewisse Veränderungen in Buchstaben und Syllben anzuzeigen. Die METATHESIS, oder Versetzung, setzet einen Buchstab auf eine andere Stelle: als z.E. aus Brunn machet man Born, oder, wo dieß älter ist, so ist jenes daraus gemachet. Eben so ist, aus Brennstein, Bernstein geworden; denn vor Alters hat man ihn auf die erste Art geheißen, weil er brennet. Wenn man aus Bauern, Bauren, aus Mauern, Mauren machet; oder wenn einige aus mangeln, schütteln, u.d.gl. manglen, schüttlen machen: so ist es eben die Figur. Ja, wieviel orthographische Schnitzer würde man nicht mit diesem gelehrten Namen einer METATHESIS entschuldigen können?

11 §. Versetzet man aber ganze Syllben, aus Übereilung im Reden, oder aus einer poetischen Nothdurft in Versen: so heißt das Ding TMESIS, eine Trennung. Dergleichen finden wir in Opitzen und andern alten Dichtern viele. Z.E. Flemming schreibt:


Hier ist der, der dich so sucht,

Und noch nirgend hat gefunden,

Bis er selbst verlohren sich,

Der ist so erboßt auf dich,

Kann genießen dieser Stunden etc.


Hier sind hat, sich und genießen PER TMESIN (traun! eine sehr zierliche grammatische Figur) von ihrer Stelle verrücket[603] worden. Und welchen Fehler in der Wortfügung kann man so nicht entschuldigen?

12 §. Man hat ferner noch eine ANASTROHPE, oder Umkehrung, da das hinderste zuvörderst zu stehen kömmt; als von um dar, kömmt darum; aus nach dem, wird demnach; aus wegen dessen, kömmt dessentwegen, u.s.w. Man hat auch eine CRASIN, oder Zusammenziehung; als, aus an das, in das, in dem, u.d.gl. wird ans, ins, im. Aus ich sage es, thue es, hoffe es, wird sags, thus, hoffs: welches sich abermal die Poeten zu merken pflegen. Endlich, damit gar kein orthographischer Fehler ohne Entschuldigung bleiben dörfe, wenn nur ein recht gelehrter Grammatiker drüber kömmt, der sich zu rathen und zu helfen weis: so hat man auch noch eine ANTITHESIN oder Vertauschung, da man schlechterdings ein x für ein U1 setzen kann: Z.E. für Wittib, Wittwe; entfahen, für empfahen etc.

13 §. Wann würde ich fertig werden, wenn ich noch alle Arten der ENALLAGE anmerken und erklären wollte; da man die Geschlechter der Wörter, ihre Zahlen, Endungen, u.s.w. verwechseln kann? Z.E. Wenn einer schreibt: Den Last, für die Last, oder den Rasen (IN SING.) für die Rasen (IN PLUR.) saget: so sind es ENALLAGEN GENERIS MASCULINI PRO FEMININO, oder NUMERI SINGULARIS PRO PLURALI. Kurz, es ist fast kein grammatischer Schnitzer übrig geblieben, dem ein rechtschaffener Grammatiker, vermittelst dieser Figuren, nicht ein gelehrtes Mäntelchen umgeben könnte. Allein, meine[604] Leser sehen wohl, wie wenig man auf Kunstgriffe dieser Art zu halten habe; die der wahren Sprachrichtigkeit mehr im Wege stehen, als dieselbe befördern. Ich mag also diese grammatischen Figuren keinem anpreisen; sondern lasse sie nur da gelten, wo der allgemeine Gebrauch in einigen Wörtern sie eingeführet, und gebilliget hat.

Fußnoten

1 Ich hätte kaum geglaubet, daß mir mein gelehrter Anmerker dieß Sprüchwort dem Buchstaben nach nehmen, und sagen würde; ihm sey kein Beyspiel bekannt, wo man ein x für ein U genommen. Es ist aber aus der Rechnungsart der Einfältigen, die mit X und V, oder römischen Zahlen rechnen, genommen; wo es übel genug ist, wenn uns ein böser Wirth ein X d.i. 10, für ein V, d.i. für 5 anschreibt. Es bedeutet sodann alle grobe Verwechselungen solcher Dinge, die nichts mit einander gemein haben. So kann man unverständlich schreiben, wenn mans am wenigsten denket.[605]


Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. 12 Bände, Band 8, Berlin und New York 1968–1987, S. 599-606.
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