Naturhymnus von Shaftesbury.78
Erster Gesang

[140] Empfangt mich, Fluren! Heilige Wälder, nehmt,

Dem Stadtgeräusch entronnen, den Wandrer auf,

Der hier in Euren Schatten Ruhe

Sucht und Erquickung! Gewährt sie hold ihm!


Heil Euch, Ihr grünen frohen Gefilde! Heil,

Des stillen Segens Wohnungen, Euch! Und Euch

Ihr reiz- und schmuckbekränzten Fernen,

Heil Euch und Allem, was in Dir lebet,


Du Aufenthalt glückseliger Menschen, die,

Entfernt dem Neide, ferne der Thorheit, hier

Unschuldig, still und froh und munter

Leben und, große Natur, Dich anschauen!


Natur! der Schönen Schönste, Du Gütige!

Allliebend, werth, von Allen geliebt zu sein,

Ganz göttlich, weisheitvoll, voll Anmuth,

Alles Erhabenen hoher Inhalt,


Der Gottheit Freundin, weise Statthalterin

Der Vorsicht, oder – Schöpferin, Schöpfer selbst? –

O Schöpfer, sieh, ich knie und bete,

Bete Dich an in der heil'gen Halle


Des hohen Tempels. Dein, o Erhabner, ist

Dies Schweigen; Dein ist diese Begeisterung,

Die mich, obwol in unharmonisch

Lautenden Tönen zu singen antreibt.


Der Wesen Einklang, Ordnung und Harmonie

Des Weltalls, die sich, o Unerforschlicher,

Du alles Schönen Quell und Ausguß,

Meer des Vollkommnen, in Dich sich auflöst,
[140]

In dessen Fülle alle Gedanken ruhn,

In dem die Schwingen jeglicher Phantasie

Ermatten, sonder End' und Ufer,

Ueberall Mittelpunkt, nirgend Umkreis.


So oft ich ausflog, kehrt' ich zurück in mich,

Von meinem Nichts, von Deiner Unendlichkeit

Durchdrungen; und ich wag' es dennoch,

Dich zu ergründen, Gedankenabgrund?


Dich zu erkennen, ewige Schönheit, Dich

Beherzt zu lieben, sehnend zu nahen Dir,

Dazu erschufst Du mich und gabst mir

Regung und Willen; o, gieb mir Kräfte!


Sei Du mein Beistand! Wenn ich im Labyrinth

Der Schöpfung forsche, leite den Forscher Du,

Der mich mit Geist und Lieb' erfüllte,

Führe den Liebenden zu Dir selbst hin!


Zweiter Gesang

Allbelebender Geist, o Du Begeisterer,

Kraft der Kräfte, Du Quell jeder Veredelung,

Quell auch meiner Gedanken,

Inhalt meiner Gedankenkraft,


Unermüdet und stets unwiderstehbar regst

Du zum neuen Genuß Alles im Reich der Macht;

Unter heil'gen Gesetzen

Wechseln Leben und leben neu.


Froh gerufen zum Licht, schauen sie und vergehn

Fröhlich schauend, damit Anderes auch den Strahl

Dieser Sonne genieße

Und am Leben sich Alles freu'.


Unerschöpflicher Quell, Allem mittheilend sich,

Unversiegbar; es stört nichts die geschäft'ge Hand,

Die kein Pünktchen verabsäumt,

Nichts verlässet mit ihrer Huld
[141]

Der Verwesung selbst grause Naturgestalt

(Schaudernd zittern von ihr Blick und Gedanken weg)

Ist die Pforte zum Leben,

Neuer Jugend Erschafferin,


Schauplatz ewiger Kunst! Alles ist Weg und Ziel,

Zweck und Mittel. Es gehn Welten in Welten auf

Unsern Sinnen; Unendlich

Kleines wird uns unendlich groß!


Welt der Wunder! In ihr strebet ein Wesen fort

(Ist's ein Wesen?), das, sich immer mittheilend, nie

Stirbt; es strebet in tiefster

Ruh'; wir nennen Bewegung es.


Dort ein ander Gespenst, unserm Begriff zu klein

Und zu groß: es entschlüpft jetzt wie ein Augenblick,

Schwillt jetzt, unserer Schranken

Spottend, auf bis zur Ewigkeit.


Wir begreifen es nicht; aber wir nennen's Zeit,

Uns was endlos umher Alles umfasset, Raum.

Und – o tiefes Geheimniß,

Unser Denken, Empfinden Du!


Uns das eigenste Selbst, und das gewisseste

Aller Wesen (es sei Alles ein Schattentraum,

Mein Empfinden ist Wahrheit;

Mein Gedanke, Vernunft besteht),


In ihm fühl' ich das Sein höherer, ewiger

Wesen; in ihm das Sein Deiner, o Urbild Du

Deiner Werke, Du wohnest

Höchstwahrhaftig in mir, in mir!


Dritter Gesang

Du Sternenhimmel, funkelnder Sonnen Raum!

Wer zählt die Sonnen? wer, die noch Niemand sah?

Und mißt von Welten dort zu Welten,

Misset von allen den Raum zu uns dann?
[142]

O Unermessner! Jede der Sonnen regt

Ein Heer von Erden. Jede der Sonnen wallt

In Straßen, deren kleiner Schimmer

Uns ein Gewölk ist, in sich ein Weltall.


Dort unsre Sonne! Heiliger Tagesbrunn,

Lichtquell und Quell des wärmenden Lebens! Sanft

Und stark wirksame Flamm', ergossen

Ringsum und in sich gedrängt, ein Lichtball.


Allmächtig Wesen, Bild des Allmächtigen,

Des Weltenhalters, Grund der belebten Welt!

An Anmuth unvergänglich ewig –

Ewig ein Jüngling und schön und lieblich.


Kaum bist Du sterblich, hohes Geschöpf. Wer tränkt,

Die immer ausgießt, labende Ströme stets

Vergeudend, die stets unerschöpfbar

Segnet von oben, wer tränkt und stärkt Dich?


Erfreut zu werden, schweben in lebender

Bewegung viele Erden um sie. Zu ihr

Gezogen als zu ihrer Mutter,

Drängen sie sich, und ein anderer Zwang hält


Sie still umkreisend. Mächtiger Hausherr, welch

Ein Geist belebt sie! Gossest Du Seel' in sie?

Wie oder fügtest Du dem Aether

Mächtig sie ein und dem Hauch der Winde,


Der Winde, Deiner Diener? Wer hält den Bau

Jedweder Welt zusammen? und dreht den Ball

Der Erd' um ihren Punkt, indeß ihr,

Ihr und der Sonne getreu, der Mond folgt?


Was bist Du, Erde, zu dem Gewalt'gen dort?

Zur Sonne? was zum Heere der Sonnen? was

Zum Unermeßlichen? Und dennoch

Bist Du so groß zu dem Nichts, dem Menschen!


Dem Menschen, der, von himmlischem Geist belebt,

Von Dir sich aufwärts, auf zu dem Vater schwingt,

Zum Mittelpunkt der Seelen, sicher,

Wie sich der Körper zu seinem Punkt drängt.
[143]

O, drängten alle Geister zu ihrem Ziel

Sich so beständig! Doch der das Chaos schied

Und sang die Welt in Harmonieen,

Wird auch die Geister in Ordnung singen.


Vierter Gesang

Unglückseliges Volk, Menschen! Warum entfloht

Ihr der lieblichen Flur lohnender Mühe? Stolz –

Oder hieß Euch ein Dämon

Ruh' verachten und elend sein?


Da kam Uebel und Noth über die Sterblichen!

Kranker, matter Begier ekelte, was die Erd'

Heimisch reichte; sie streiften

Plündernd über das Meer hinaus.


Von den Schätzen der Welt über der Erde Schooß

Ungesättiget, grub mühend die Thorenzunft,

Grub hinein in der Mutter

Eingeweide nach Reichthum hin.


Da auch, göttliche Kunst, herrschetest bildend Du,

In Verwandlungen hier, dort in untrennbaren

Ewig festen Gestalten,

Undurchdringlich dem Forschenden;


Aber giftiger Dampf, der die Geheimnisse

Deiner Werke, Natur, birget, umhüllte schnell

In der grausigen Werkstatt

Die Verwegnen mit Todesdampf.


*


Reine, liebliche Luft! freundliches Tagelicht!

Dich zu schauen auf Dich, Erde, zu treten froh,

Deine Schätze betrachtend –

Welche reinere, süße Luft!


Von der Sonne gewärmt, von dem belebenden

Hauch der Winde gekühlt, wenn sie die Pflanzen hier

Sanft erquicken und läutern

Dort der dampfenden Erde Dunst.
[144]

Regen strömen hinab, neue Befruchtungen;

Denn mit Kräften belebt, Erde, Du Nährerin

Deiner Kinder, die Luft Dich

Frisch, als bildete Gott Dich heut.


*


Und Du schwerere Luft, Wasser, o schön bist Du!

Hell durchscheinend und klar, aber auch harten Sinns,

Wenn Tyrannen Dich pressen;

Sanft geleitet, wie folgst Du gern!


Rinnst, ein spiegelnder Strom, lösest die lockere

Erd' auf, schwemmest der Flur stärkende Nahrung zu,

Die in heilsamer Zwietracht

Blüthen zeuget und Frucht gebiert.


Und zusammengedrängt tief in den Ocean,

Wanderst, leichtes Geschöpf, wieder gen Himmel Du,

Aufgezogen von Lüften;

Schwebst in Wolkengestalt umher,


Und kommst wieder herab, wieder zur lechzenden

Erd' erquickend und füllst Quellen und Ströme neu:

Ringsum lachen die Felder;

Alles Lebende lebt durch Dich.


*


Und Ihr Quellen des Lichts, Meere der leuchtenden

Feuerflammen, wer forscht, und wer umufert Euch?

Ausgegossen ins weite

Weltall, tief in der Erde Schooß


Eingeschlossen. Die Luft dienet Euch willig, trägt

Euch auf Fittigen. Trinkt selber die Sonne nicht,

Trinkt nicht alle das Sternheer

Eure Strahlen und glänzt von Euch?


Lichtquell, heiliger Brunn! Nenn' ich Dich Aether? Dich,

Den Durchdringenden, der Alles erhitzt und wärmt,

Unsern frostigen Erdball

Liebend wärmet bis in sein Herz.


Durch Dich bildeten sich alle Gestalten; Du

Giebst der Pflanze Gedeihn, fachst in der Athmenden

Brust die himmlische Flamm' auf,

Die empfindet und Leben heißt;
[145]

Baust, ernährest und sparst jegliches Werkzeug Dir,

Hältst in glücklicher Ruh', glücklich in Harmonie

Alle Wesen; sie freun sich

Deiner wärmenden Mutterhuld.


Aber brichst Du hervor wüthend in Flammen, brichst

Ueberwältigend Du jede Gestalt und Form,

O, so löset sich Alles

Auf und kehret zurück – in Dich.


Fünfter Gesang

Wie matt und träge blicket die Sonne dort

Nach jener schiefen Ferne des Erdenballs!

Lang ist die Winternacht, die dort liegt,

Wenig erfreuend der holde Morgen.


Da rasen Stürme, nimmer ermattend; da

Liegt in krystallnen Wellen das brausende

Unzähmbar-stolze Meer gefangen;

Thäler und Höhen bedeckt die Alpe


Das eis'gen Schneees. Unter ihm liegt der Strom

Erstarrt, erstarret Baum und Gesträuch und Land;

Hineingedrängt in finstre Höhlen,

Zittern die Menschen vor Frost, umheulet


Von hungernd-wilden Bestien. Doch (so groß

Ist Menschenmuth!) sie zittern und zagen nicht

Vor ihnen; Kunst und Klugheit hebt sie

Ueber Gefahren und Nacht und Mangel.


Denn endlich kommt die mächtige Sonne, schmelzt

Hinweg den Schnee und löst die Gefangenen,

Die dann auf einen künft'gen Kerker

Wieder sich rüsten und froh versorgen.


O Kunst und Klugheit! Göttliche Gabe! reich

Geschenk des Himmels! Waffe für jede Noth!

Eisberge schwimmen dort; die Sonne

Riß von einander die mächt'gen Berge,


Und zwischen ihnen drängen sich Ungeheu'r

Der Tiefe; seht! sie schwimmen wie Inseln, groß

Und stark und unbezwinglich Allem,

Göttliche Menschenvernunft, nur Dir nicht.


*
[146]

Hinweg, o Winter! Wende, mein Auge, Dich

Zu jenen holden Gegenden, die die Sonn'

Inbrünstig anblickt: wie verändert

Wirket sie dort! einen ew'gen Sommer.


Das Aug' erträgt nicht diesen erglüh'nden Strahl;

Die Luft erkühlt nicht diese gehobne Brust,

Die nach der Ruhe lechzt im Schatten

Kühler, erfrischender Abendwinde.


Der Schöpfer weigert Menschen und Thieren nicht

Die lang erseufzte stärkende Ruh' Ein Dach

Von Wolken steigt empor; erquicket

Athmen die Pflanzen, sie athmen Dank auf.


*


Du Land der Wunder! Edelgesteineland,

Von Würzen duftend! Aber wer schreitet dort

Um schönen Fluß? Ein Berg, belebet,

Reich an Empfindungen und Muth und Weisheit,


Dem Menschen dienend, selber in Schlachten ihm

Mehr Bundsgenoß als Sclave – der Elephant!

O Prachtgeschöpf! Und Prachtinsecten,

Schöne Bewohner der schönsten Pflanzen,


Vom kleinen Moose bis zum erhabenen Palm!

Und dort vor allen jenes Insect, das sich

Begräbt und spinnt den Menschen ihre

Seidnen Gewande, den Schmuck des Stolzes.


Mein Blick zieht weiter. Siehe, wie Balsam dort

Von Bäumen fließet! Dort das geduldige

Kameel; es hebt den Hals und senket

Nieder den Rücken, ein Schiff der Wüste.


Schau dort den Nilstrom! Bild der belebenden

Vielbrüst'gen Mutter, steckt er die Arm' umher,

Damit von seinen segensschwangern

Fruchtenden Wellen sich Alles labe.


Aus dürrer Wüste eilen die Thier' herbei,

Den Durst zu löschen, fröhlich zu paaren sich;

Die Inbrunst wirret die Geschlechter,

Neue Gestalten erzeugt die Sonne.
[147]

Tyrann des Stromes, schreckendes Ungeheu'r

Der Ufer, lauschend hinter dem Schilfe, dann

Den Schlafenden erhaschend (falsche

Thränen entrinnen dem frommen Mörder),


Verhaßtes Bild der trügenden Heuchelei

Des Aberglaubens, weinender Krokodil,

Der Pest, die Menschen gegen Menschen

Reizte, mit Wuth sich um Gottes willen


Zu würgen. Unhold, bleib in der Wüste dort,

Die Dich geboren! Halte den Gifthauch fern,

Der, um den Himmel zu bevölkern,

Länder verheert und entmenscht die Menschheit.


*


Hinauf zu jenen Höhen, wo Berge dort

Den Himmel tragen! Fels über Fels gethürmt

Erklimmen wir; die Ströme drunten

Tosen und brüllen im jähen Abgrund.


Verwittert hangt der drohende Fels auf uns!

Geborsten steht die Trümmer der ew'gen Höh'

Des Erdbaus. Prächtige Verwüstung!

Alter und Jugend der Welt enthüllst Du.


Uranfang suchen unsre Gedanken hier

Uns suchen in der Tiefe des Abgrunds dann

Der Wesen Ende. Nicht am Gipfel,

Laß uns in Mitte des Berges weilen!


Hier unter immergrünenden Fichten, hier

Im Cedernschatten! Selber des Mittags Strahl

Wird Dämm'rung hier; die tiefe Stille

Schweigend, sie spricht und enthüllt Gedanken.


Gedanken von wie mächtiger neuer Kraft!

Geheimnißreiche Stimmen ertönen! Hier,

Hier ist der Gottheit Tempel! Heilig –

Heiliges Wesen, mit Nacht umschleiert![148]


78

Moralists, P. III. Sect. I.

Quelle:
Herders Werke. Berlin [o.J.].
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