2.

[212] Der großen Städte nächtliche Emporen

Stehn rings am Rand, wie gelbe Brände weit.

Und mit der Fackel scheucht aus ihren Toren

Der Tod die Toten in die Dunkelheit.
[212]

Sie fahren aus wie großer Rauch und schwirren

Mit leisen Klagen durch das Distelfeld.

Am Kreuzweg hocken sie zuhauf und irren

Den Heimatlosen gleich in schwarzer Welt.


Sie schaun zurück von einem kahlen Baume,

Auf den der Wind sie warf. Doch ihre Stadt

Ist zu für sie. Und in dem leeren Raume

Treibt Sturm sie um den Baum, wie Vögel matt.


Wo ist die Totenstadt? Sie wollen schlafen.

Da tut sich auf im ernsten Abendrot

Die Unterwelt, der stillen Städte Hafen,

Wo schwarze Segel ziehen, Boot an Boot.


Und schwarze Fahnen wehn die langen Gassen

Der ausgestorbnen Städte, die verstummt

Im Fluch von weißen Himmeln und verlassen,

Wo ewig eine stumpfe Glocke brummt.


Die schwarzen Brücken werfen ungeheuer

Die Abendschatten auf den dunklen Strom.

Und riesiger Lagunen rotes Feuer

Verbrennt die Luft mit purpurnem Arom.


Kanäle alle, die die Stadt durchschwimmen,

Sind von den Lilienwäldern sanft umsäumt.

Am Bug der Kähne, wo die Lampen glimmen,

Stehn groß die Schiffer, und der Abend träumt
[213]

Wie zarte goldene Kronen um die Stirnen.

Der tiefen Augen dunkler Edelstein

Umschließt des hohen Himmels blasse Firnen,

Wo weidet schon der Mond im grünen Schein.


Die Toten schaun aus ihrem Winterbaume

Den Schläfern zu in ihrem sanften Reich.

Und das Verlangen faßt sie nach dem Saume

Des roten Himmels und dem Abend weich.


Da stürzt sie Hermes, der die Nacht erschüttert

Mit starkem Flug, ein bläulicher Komet,

Den Grund herab, der meilentief erzittert,

Da singend ihn der Toten Zug durchweht.


Sie nahn den Städten, da sie wohnen sollen,

Draus goldne Winde gehn im Abendflug.

Der Tore Amethyst im tiefen Stollen

Küßt ihrer Reiherschwingen langer Zug.


Die Silberstädte, die im Monde glühen,

Umarmen sie mit ihres Sommers Pracht,

Wo schon im Ost wie große Rosen blühen

Die Morgenröten in die Mitternacht.

Quelle:
Georg Heym: Dichtungen und Schriften. Band 1, Hamburg, München 1960 ff., S. 212-214.
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