Litaney auf das Fest aller Seelen[98] 1

Ruhn in Frieden alle Seelen,

Die vollbracht ein banges Quälen,

Die vollendet süßen Traum,

Lebenssatt, gebohren kaum,

Aus der Welt hinüber schieden:

Alle Seelen ruhn in Frieden!


Die sich hier Gespielen suchten,

Oefter weinten, nimmer fluchten,

Wenn von ihrer treuen Hand

Keiner je den Druck verstand:

Alle, die von hinnen schieden,

Alle Seelen ruhn in Frieden!
[99]

Liebevoller Mädchen Seelen,

Deren Thränen nicht zu zählen,

Die ein falscher Freund verließ,

Und die blinde Welt verstieß:

Alle, die von hinnen schieden,

Alle Seelen ruhn in Frieden!


Und der Jüngling, dem, verborgen

Seine Braut am frühen Morgen,

Weil ihn Lieb' ins Grab gelegt,

Auf sein Grab die Kerze trägt:

Alle, die von hinnen schieden,

Alle Seelen ruhn in Frieden!


Alle Geister, die voll Klarheit,

Wurden Märtyrer der Wahrheit,

Kämpften für das Heiligthum,

Suchten nicht der Marter Ruhm:

Alle, die von hinnen schieden,

Alle Seelen ruhn in Frieden!
[100]

Und die nie der Sonne lachten,

Unterm Mond auf Dornen wachten,

Gott, im reinen Himmels-Licht,

Einst zu sehn von Angesicht:

Alle, die von hinnen schieden,

Alle Seelen ruhn in Frieden!


Und die gern im Rosen-Garten

Bey dem Freuden-Becher harrten,

Aber dann, zur bösen Zeit,

Schmeckten seine Bitterkeit:

Alle, die von hinnen schieden,

Alle Seelen ruhn in Frieden!


Auch, die keinen Frieden kannten,

Aber Muth und Stärke sandten

Ueber leichenvolles Feld

In die halb entschlafne Welt:

Alle, die von hinnen schieden,

Alle Seelen ruhn in Frieden!
[101]

Ruhn in Frieden alle Seelen,

Die vollbracht ein banges Quälen,

Die vollendet süßen Traum,

Lebenssatt, gebohren kaum,

Aus der Welt hinüber schieden:

Alle Seelen ruhn in Frieden!

Fußnoten

1 An diesem Feste besuchen die Römisch-Catholischen die Gräber der Ihrigen, setzen Lichter darauf, und beten für die Verstorbenen.


Quelle:
Johann Georg Jacobi: Sämmtliche Werke. Band 3, Zürich 1819, S. 98-102.
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