Vierundzwanzigstes Kapitel

[543] Nachrichten aus Kuhschnappel – Antiklimax der Mädchen –

Eröffnung der sieben Siegel


Das setzet mich eben oft außer mir, daß wir, wenn wir immerhin einen von der Tugend auf uns ausgestellten Wechsel annehmen und honorieren, ihn doch erst nach so vielen Doppel-Usos und so vielen Respekttagen auszahlen, indes der Teufel wie Konstantinopel von keinen wissen will. Firmian machte keine andern Einreden mehr als verzögerliche: er schob bloß seine Beichte auf und dachte, da Apollo der schönste Tröster (Paraklet) der Menschen ist, und da Natalie dem Basilisk des Grams sein eignes Bild im Spiegel der Dichtkunst gewiesen, so werde er an seinem Bildnis umkommen. So werden alle tugendhafte Bewegungen in uns durch die Reibungen der Triebe und der Zeit entkräftet. – –

Ein einziger neuer Brief schob alle Wände seines Theaters wieder durcheinander. Er kam vom Schulrat Stiefel.[543]


Hoch-Edelgeborner,

Insonders hochzuehrender Herr Inspektor!


Ew. Hoch-Edelgeboren erinnern sich noch mehr als zu gut der testamentarischen Verfügung, die unser beiderseitiger Freund, der sel. Hr. Armenadvokat Siebenkäs, getroffen, daß nämlich Hr. Heimlicher v. Blaise seine Pupillengelder auszahlen solle – und zwar, wie bekannt, an Dero werte Person, die solche wieder an die Witib zu extradieren habe –, widrigenfalls wolle Testator als Gespenst auftreten. Letztem sei, wie ihm wolle: so viel ist stadtkundig, daß allerdings seit einigen Wochen ein Gespenst in Gestalt unsers sel. Freundes dem Hrn. Heimlicher überall nachgesetzt hat, der darüber so bettlägerig geworden, daß er das heilige Abendmahl genommen und den Entschluß gefaßt, besagte Gelder wirklich herauszugeben. Nun frag' ich hier an, ob Sie solche vorher haben wollen, oder ob solche, wie fast natürlicher, sofort der hinterlassenen Witwe einzubändigen sind. Noch hab' ich anzumerken, daß ich letztere, nämlich die gewesene Frau Siebenkäs, wirklich – nach dem Willen des Erblassers – seit geraumer Zeit geheiratet habe, wie sie denn jetzt gesegneten Leibes ist. Sie ist eine treffliche Haus- und Ehefrau; wir leben in Ruhe und Einigkeit; sie ist gar keine Thaläa173 und sie ließe ihr Leben so freudig für ihren Mann, wie er für sie – und ich wünsche oft nichts, als daß mein Vormann, ihr guter, unvergeßlicher erster Eheherr, Siebenkäs, der zuweilen seine kleinen Launen hatte, ein Zuschauer des Wohlbefindens sein könnte, worin gegenwärtig seine teuere Lenette schwimmt. Sie beweint ihn jeden Sonntag, wo sie vor dem Gottesacker vorübergeht; doch bekennt sie auch, daß sie es jetzo besser habe. Leider muß ich erst so spät von meiner Frau vernehmen, in welchen erbärmlichen Umständen sich der Selige mit seinem Beutel befunden; wie würde ich sonst ihm[544] und seiner Gattin unter die Arme gegriffen haben, wie es einem Christen gebührt! – Wenn der Selige, der jetzo mehr hat als wir alle, in seinem Glanze herabsehen kann auf uns: so wird er mir gewiß verzeihen. – Ich halte ergebenst um eine baldige Antwort an. Ein Grund der Herausgabe der vormundschaftlichen Gelder möchte dies mit sein, daß Hr. Heimlicher, der im Ganzen ein rechtschaffener Mann ist, nun nicht mehr vom Hrn. von Meyern verhetzet wird; beide haben sich nun stadtkundig ganz miteinander überworfen, und letzter hat sich in Baireuth von fünf Verlobten losgemacht und tritt gegenwärtig mit einer Kuhschnapplerin in den Stand der hl. Ehe.

Meine Frau ist ihm so gram, als es die christliche Liebe nur erlaubt, und sie sagt, wenn er ihr begegne, sei ihr wie einem Jäger, dem am Morgen eine alte Frau in den Weg tritt. Denn er habe zu manchem unnützen Verdrusse mit ihrem Manne geholfen; und sie erzählt mir oft mit Vergnügen davon, wie hübsch Sie, hochgeehrtester Hr. Inspektor, manchmal diesen gefährlichen Menschen abgekappt. In mein Haus wagt er jedoch keinen einen Tritt. Für heute verspare ich noch eine ausführlichere Bitte, ob Sie nicht die noch erledigte Stelle des Verstorbnen in dem Götterboten deutscher Programme – welcher, darf ich sagen, in den Gymnasien und Lyzeen von Schwaben bis Nürnberg, Baireuth und Hof mit Beifall gehalten wird – als Mitarbeiter besetzen wollten. An elenden Programmensudlern ist eher Überfluß als Mangel – und Sie sind daher (lassen Sie sich dies ohne Schmeichelei sagen) ganz der Mann dazu, der die satirische Geißel über dergleichen Froschlaich in den kastalischen Quellen zu schwingen wissen würde, wie wahrlich nur wenige. Jedoch künftig mehr! Auch meine gute Frau schließet hier die herzlichsten Grüße an den hochgeehrten Freund ihres sel. Mannes bei; und ich selber verharre unter der Hoffnung baldiger Bittegewähr


Ew. Hochwohlgeboren

ergebenster

S. R. Stiefel,

Schulrat.[545]


Das Menschenherz wird durch große Schmerzen gegen das Gefühl der kleinen gedeckt, durch den Wasserfall gegen den Regen174. Firmian vergaß alles, um sich zu erinnern, um zu leiden, um sich zuzurufen: »So hab' ich dich ganz verloren, auf ewig – O du warest allemal gut, nur ich nicht – Sei glücklicher als dein einsamer Freund, den du mit Recht jeden Sonntag beweinest.« – Er warf auf seine satirischen Launen jetzt alle Schuld seiner vorigen Eheprozesse und schrieb seiner eignen unfreundlichen Witterung den Mißwachs an Freuden zu.

Aber er tat sich jetzt mehr Unrecht als sonst Lenetten. Ich will auf der Stelle die Welt mit meinen Gedanken darüber beschenken. Die Liebe ist die Sonnennähe der Mädchen, ja es ist der Durchgang einer solchen Venus durch die Sonne der idealen Welt. In dieser Zeit ihres hohen Stils der Seele lieben sie alles, was wir lieben, sogar Wissenschaften und die ganze beste Welt innerhalb der Brust; und sie verschmähen, was wir verschmähen, sogar Kleider und Neuigkeiten. In diesem Frühlinge schlagen diese Nachtigallen bis an die Sommersonnenwende: der Trautag ist ihr längster Tag. Dann holet der Teufel zwar nicht alles, aber doch jeden Tag ein Stück. Das Bastband der Ehe bindet die poetischen Flügel, und das Ehebette ist für die Phantasie eine Engelsburg und ein Karzer bei Wasser und Brot. Ich bin oft in den Flitterwochen dem armen Paradiesvogel oder Pfau von Psyche nachgegangen und habe in der Mause des Vogels die herrlichen Schwung- und Schwanzfedern aufgelesen, die er verzettelte: und wenn dann der Mann dachte, er habe eine kahle Krähe geehlicht, setzt' ich ihm den Federbusch entgegen. Woher kommt dies? Daher: Die Ehe überbauet die poetische Welt mit der Rinde der wirklichen, wie nach Descartes unsere Erdkugel eine mit einer schmutzigen Borke überzogene Sonne ist. Die Hände der Arbeit sind unbehülflich, hart und voll Schwielen und können den feinen Faden des Idealgewebes schwer mehr halten oder ziehen. Daher ist in den höhern Ständen, wo man statt der[546] Arbeitstuben nur Arbeitkörbchen hat, und wo man auf dem Schoß die Spinnrädchen mit dem Finger tritt, und wo in der Ehe die Liebe noch fortdauert- oft sogar gegen den Mann –, der Ehering nicht so oft wie in den niedern Ständen ein Gygesring, welcher Bücher, Ton-, Dicht-, Zeichen- und Tanz-Künste unsichtbar macht; auf den Höhen bekommen Gewächse und Blumen aller Art, besonders die weiblichen, gewürzhaftere Kräfte. Eine Frau hat nicht wie der Mann das Vermögen, die innern Luft- und Zauberschlösser gegen die äußere Wetterseite zu verwahren. An was soll sich die Frau nun halten? An ihren Ehevogt. Der Mann muß immer neben dem flüssigen Silber des weiblichen Geistes mit einem Löffel stehen und die Haut, womit es sich überzieht, beständig abschäumen, damit der Silberblick des Ideals fortblinke. Es gibt aber zweierlei Männer: Arkadier oder Lyriker des Lebens, die ewig lieben wie Rousseau in grauen Haaren – solche sind nicht zu bändigen und zu trösten, wenn sie an der mit goldnem Schnitt gebundenen weiblichen Blumenlese nichts mehr vom Golde wahrnehmen, sobald sie das Werklein Blatt für Blatt durchschlagen, wie es bei allen umgoldeten Büchern geht – zweitens gibt es Schafknechte und Schmierschäfer, ich meine Meistersänger oder Geschäftleute, die Gott danken, wenn die Zauberin sich, wie andere Zauberinnen, endlich in eine knurrende Hauskatze umsetzt, die das Ungeziefer wegfängt.

Niemand hat mehr Langeweile und Angst – daher ich einmal in einer komischen Lebenbeschreibung das Mitleiden darauf hinlenken will – als ein feister, schiebender, gewichtvoller Bassist von Geschäftmann, der, wie sonst römische Elefanten, auf dem schlaffen Seile der Liebe tanzen muß, und dessen liebendes Mienenspiel ich am vollständigsten bei Murmeltieren antreffe, die ins Bewegen nicht recht kommen können, wenn die Stubenwärme sie aus dem Winterschlaf aufreißet. Bloß bei Witwen, die weniger geliebt als geheiratet sein wollen, kann ein schwerer Geschäftmann seinen Roman auf der Stufe anfangen, wo alle Romanschreiber die ihrigen ausmachen, nämlich auf der Trau Altarstufe. Ein solcher im einfachsten Stil gebaueter Mann würde eine Last vom Herzen haben, wenn jemand seine Schäferin solange[547] in seinem Namen lieben wollte, bis er nichts mehr dabei zu machen hätte als die Hochzeit; – und zu so etwas, nämlich zu diesem Last- oder Kreuzabnehmen, bezeigt niemand mehr Lust als ich selber; ich wollt' es oft in öffentliche Blätter setzen lassen (ich sorgte aber, man nähm' es für Spaß), daß ich erbötig wäre, erträglichen Mädchen, zu deren Liebe ein Mann von Geschäften nicht einmal die Zeit hat, so lange platonische, ewige Liebe zu schwören, ihnen die nötigen Liebeerklärungen als Plenipotentiar des Bräutigams zu übermachen und kurz, solche als substitutus sine spe succedendi oder als Gesellschaftkavalier am Arme durch das ganze unebene Breitkopfische Land der Liebe zu führen, bis ich an der Grenze die Fracht dem Sponsus (Bräutigam) selber völlig fertig übergeben könnte, welches dann mehr eine Liebe als eine Vermählung durch Gesandte wäre. Wollte einer (nach einem solchen systema assistentiae) den Schreiber dies, da doch auch in den Flitterwochen noch einige Liebe vorkommt, auch in diesen zum Lehnsvormund und Prinzipalkommissarius anstellen, so müßte er so viel Verstand haben und es sich vorher ausbedingen...

In Siebenkäsens Lenette war, ohne seine Schuld, sogleich vor dem Traualtar die ideale, selige Insel meilentief hinabgesunken; der Mann konnte nichts dafür; aber er konnte auch nichts dagegen. Überhaupt, lieber Erziehrat Campe, solltest du nicht so laut mit dem Schulbakel auf dein Schreibpult schlagen, wenn eine einzige Fröschin im nächsten Teich etwas quäket, was in einem Almanach eingesandt werden kann – ach reiße den guten Geschöpfen, die die schönsten Träume voll Phantasieblumen ins leere Leben sticken, doch den kurzen einer empfindsamen Liebe nicht weg: sie werden ohnehin zu bald, zu bald geweckt, und ich und du schläfern sie mit allen unsern Schriften nicht wieder ein! Siebenkäs schrieb an demselben Tage dem Schulrat kurz und eilig zurück: es sei ihm recht lieb, daß er sich an das Testament und an die Gesetze gehalten, und er schicke ihm hier die ganze Vollmacht zur Gelder-Erhebung; nur bitte er ihn als einen großen Gelehrten, der oft dergleichen weniger verstehe als zu verstehen hoffe, alles bloß durch einen Advokaten abzumachen, da ohne[548] Juristen kein Jus helfe, ja oft mit ihnen kaum. – Programme zu rezensieren hab' er keine Zeit, geschweige zu lesen, und er grüße herzlich die Gattin.

Es ist mir nicht unangenehm, daß alle meine Leser es, wie ich sehe, von selber herausgebracht, daß das Gespenst oder der überirdische Wauwau oder Mumbo Jumbo175, der dem Heimlicher v. Blaise besser als Reichs-Kammergerichtsexekutions-Truppen den Erbschaftraub aus den Klauen gezogen, niemand weiter gewesen als Heinrich Leibgeber, der sich seiner Ähnlichkeit mit dem sel. Siebenkäs bediente, um den revenant (Wiederkömmling) zu spielen; ich brauche also dem Leser das nicht erst zu sagen, was er schon weiß.

Wenn der Mensch endlich eine jähe Alpe mit Laubfroschhänden aufgekrochen ist: so ist oft die erste Aussicht droben die in eine neue klaffende Schlucht: Firmian sah eine neue Tiefe unter sich – er mußte seinen neulichen Vorsatz fortweisen – ich meine, er durfte Natalien nicht ein Wort von seiner Auferstehung aus dem Bein-Lüz, nicht eine Silbe von seiner Fortdauer nach dem Tode sagen. Ach das Glück seiner Lenette, die, obwohl unverschuldet, zwei Männer hatte, war dann auf eine Zungenspitze gestellt – er hätte die Schuld, Lenette den Jammer gehabt. »Nein, nein (sagt' er), die Zeit wird schon nach und nach in Nataliens gutem Herzen auf meinem blassen Bild Staub ansetzen und ihm die Farben ausziehen.«

Kurz er schwieg. Die stolze Natalie schwieg ebenfalls. In diesem abscheulichen Stande neben dem harten, ewigen Knoten des Schauspiels bracht' er seine Stunden auf dem Theater ängstlich zu – über jeden Reiz des Frühlings warf der Rabenzug der Sorgen den gaukelnden Schatten, und in seinen Schlummer fielen die giftigen Träume wie Mehltau. Jede Traumnacht zerschnitt den fallenden, niedersteigenden Planetenknoten und sein Herz dazu. Wie rettete ihn das Schicksal aus diesem Qualm, aus dieser Stickluft der Angst? Wie heilte es seinen Fingerwurm im Ehering Finger? – Dadurch daß es den Arm abnahm. – Nämlich an[549] einem langen Abende war der Graf kurz vor dem Bettegehen so vertraulich gegen ihn geworden als – Weltleute können. Er sagte, er habe ihm etwas sehr Angenehmes zu berichten; nur möge er ihm eine Vorerinnerung vergönnen. Er komme ihm fuhr er fort – während seines Amtes nicht mehr so aufgeweckt und humoristisch vor, als er ihn vor demselben gefunden; ja vielmehr, wenn ers sagen sollte, zuweilen niedergeschlagen und zu sentimental; und doch habe er früher selber gesagt (dies war aber der andere Leibgeber), er höre lieber jemand über ein Übel fluchen als jammern, und man könne ja die Füße in dem Winter und doch die Nase in dem Frühling stecken haben und im Schnee an eine Blume riechen. – »Ich verzeih' es gern, denn ich errate vielleicht die Ursache«:, setzte er hinzu; aber sein Verzeihen war eigentlich nicht ganz wahr. Denn wie alle Große war ihm alles Starke der Gefühle, sogar liebender, am meisten aber trauernder, ein Verdruß, und ein starker Handdruck der Freundschaft ein halber Fußtritt; und vor ihm sollte der Schmerz nur lächelnd, das Böse nur lachend, höchstens ausgelacht vorüberziehen, wie denn die kältesten Weltleute dem physischen Menschen gleichen, dessen größter Wärmegrad sich in der Gegend des Zwerchfells aufhält176. Folglich mußte dem Grafen der vorige Leibgeber – dieser sturmwindige und dabei heitere tiefblaue Himmel – mehr zusagen als der angebliche. – Aber wie anders als wir, die wir den Tadel ruhig lesen, hörte Siebenkäs ihn an! Diese Sonnenfinsternisse seines Leibgebers, welche keine eignen Sonnenflecken waren, sondern die er selber durch seine Stellung scheinbar hervorbrachte, warf er sich als so schwere Sünden gegen seinen Lieben vor, daß er für sie durchaus Beichte und Buße haben mußte.

Als nun gar der Graf fortfuhr: »Euere Empfindsamkeit kann sich wohl nicht bloß auf den Verlust Eueres Freundes Siebenkäs beziehen, von dem Ihr mir überhaupt nach seinem Tode nicht mit so viel Wärme mehr gesprochen als bei seinem Leben; verzeiht mir diese Offenheit« –: da durchschnitt ein neuer Schmerz über Leibgebers Verschattung seine Stirn, und mit Not ließ er seinen Gerichtherrn sich zu Ende erklären. »Aber bei mir, bester[550] Leibgeber, ist dies kein Vorwurf, sondern ein Vorzug – um Tote soll man nicht ewig trauern, höchstens um Lebendige. – Und eben das letzte kann bei Euch in künftiger Woche aufhören, denn da kommt meine Tochter und –« (dies sprach er langgezogen) »ihre Freundin Natalie mit; sie sind sich unterwegs begegnet.« Hastig sprang Siebenkäs auf, stand fest und stumm da, hielt sich die Hand vor die Augen, nicht als einen Fächer, sondern als einen Lichtschirm, um die übereinander stehenden und widereinander laufenden Wolkenreihen von Gedanken recht durchzuschauen und zu verfolgen, eh' er seine Antwort gab.

Aber der Graf, ihn als Leibgeber in allen Punkten schief sehend und seine empfindsame Umwandlung auf Nataliens Rechnung und Entbehrung schreibend, ersuchte ihn, bevor er spreche, ihn nur gar auszuhören und seine Versicherung anzunehmen, mit welcher Freude er alles tun würde, um die schöne Freundin seiner Tochter auf immer in seiner Nachbarschaft zu behalten. Himmel! wie verwickelte der Graf alles Einfache so tausendfältig!

Jetzt mußte der von neuen Windecken gestürmte Siebenkäs um einen Bedenkaugenblick ersuchen – denn hier standen ihm drei Seelen auf dem Spiel –; aber er hatte kaum einige heftige Gänge durch das Zimmer gemacht, als er wieder fest stand und zum Grafen und zu sich sagte: »Ja, ich handle recht!« Darauf tat er die fragende Bitte an ihn um sein Ehrenwort, daß er ein Geheimnis, das er ihm vertrauen wolle, und das weder ihn selber noch seine Tochter im geringsten betreffe oder beschädige, bei sich verwahren wolle. – »In diesem Falle, warum nicht?« versetzte der Graf, dem ein aufgedecktes Geheimnis das Lichten einer Sperrwaldung vor einer weiten Aussicht war.

Da schloß Firmian sein Herz und sein Leben und alles auf; es war ein losgelaßner Strom, der in einem neuen Kanale sich überstürzt und mit Blicken noch nicht zu übermessen ist. Mehrmals hielt ihn der Graf durch neues Mißverstehen auf, weil er eine Liebe Nataliens gegen den eigentlichen Leibgeber bloß voraussetzend sich erdichtet und die wahre gegen Siebenkäs von niemand erfahren hatte.[551]

Jetzt überraschte wieder der überraschte Gerichtherr von seiner Seite und zeigte dem Inspektor unter so vielen Gesichtern, die in solchen Fällen zu machen waren – beleidigte, zornige, bestürzte, verlegne, entzückte, kalte –, bloß eines der zufriedensten. Vorzüglich erfreu' ihn nur, sagte er, daß er doch an so manchem sich gestoßen und Licht sich angezündet – und daß er in einigen Punkten von Leibgeber nicht zu gut und in andern nicht zu blind gedacht; – am meisten aber sei er über das Glück entzückt, auf diese Weise einen Leibgeber doppelt zu haben und den abgereisten in keiner Trauer um einen verstorbenen Freund zu wissen. –

Über des Grafen Heiterbleiben wundere sich doch niemand, der nur irgendeinen hellen Ordenstern auf einer bejahrten erloschenen Brust funkeln sehen. Wenn unser alter Weltmann so den auf- und abfliegenden Weberschiffchen dieser freundschaftlichen Kette nachsah, dem Lieben und Opfern auf jeder Seite und die dadurch zusammengewirkte glänzende Raffaels-Tapete der Freundschaft in der Hand hielt und besah, so überkam er nach so langer Zeit den Genuß von etwas Neuem; so daß er bisher in seiner ersten Loge vor einem lebendigen komisch-historischen Schauspiel gestanden, das er sich selber schön entwickelte und das sich jede Minute in seinem Kopfe wiedergeben ließ. Auch sein Inspektor wurde für ihn zu einem neuen Wesen voll frischer Unterhaltung dadurch eben, daß er von der Bühne wegging, sich umkleidete und als der Pseudo-Selige, Siebenkäs, in seine Stube eintrat und ihm in der Zukunft von nichts als dem Erzähler selber recht viel erzählen konnte. Und so wurden ihm beide Freunde gleich schmeichelhaft-lieb durch eine sich andrängende Teilnahme an ihm, mit welcher sie gegenseitig ihren Seelenbund durchflochten hatten.

Wer die Seligkeit, wahr zu bleiben, genossen, der begreift die neue, mit welcher Siebenkäs sich jetzt über alles, über sich und über Heinrich und Natalie, ungehemmt ergießen konnte, – indem er die weggeworfne Last erst nachfühlte, die leichte Scherzlüge des Augenblicks zu einem jährlichen Lustspiel von 365 Aufzügen zu verarbeiten. Wie leicht eröffnete ers dem Grafen, daß er vor[552] der Ankunft Nataliens, die er weder forttäuschen noch enttäuschen könne, fliehen wollte, und zwar geradezu nach dem Reichsmarktflecken Kuhschnappel. Da der Graf aufhorchte: so sagte er ihm alles, was ihn trieb und reizte: Sehnsucht nach seinem Grabstein und unheiligen Grabe, ordentlich um zu büßen Sehnsucht, Lenetten von fernen ungesehen zu sehen, ja vielleicht in der Nähe ihr Kind – Sehnsucht, über ihren Glück- und Ehestand mit Stiefeln das Rechte von Augenzeugen zu erfahren; denn Stiefels Brief hatte ihm die Blumenasche der vergangnen Tage in die Augen geweht und die eingeschlafne Blume der ehelichen Liebe aufgeblättert- Sehnsucht, den Schauplatz seiner niederbeugenden Lage dort mit abgelegter Bürde aufrecht und romantisch zu durchwandern – Sehnsucht, im Marktflecken etwas Neues von seinem Leibgeber zu vernehmen, der ja erst vor kurzem da gewesen – Sehnsucht, seinen Totenmonat, den August, einsam zu feiern, wo es ihm wie dem Weinstock ergangen, dem man im August die Blätter abbricht, damit die Sonne stärker auf die Beeren steche.

Mit drei Worten – denn weshalb viele Gründe, da man nur einmal wollen darf, so kanns nachher an Gründen dazu nicht fehlen – er reiste ab.

173

Die Ehefrau des Pinarius, Thaläa, unter der Regierung des Tarq. superb. war die erste, die mit ihrer Schwiegermutter Gegania gezanket hat. Plut. im Numa. Vielleicht stellet einmal die deutsche Geschichte noch ehrenhafter die erste Gattin auf, die nicht mit ihrer Schwiegermutter gekeifet; wenigstens sollte ein deutscher Plutarch auf eine solche Jagd machen.

174

Der bekannte Wasserfall – pisse vache – stürzt sich in einem solchen Bogen vom Felsen, daß man unter ihm weggehen kann und also gegen Regen zugedecket ist. Malerische Reise in die Alpen.

175

Ist ein Popanz, 9 Fuß hoch, aus Baumrinde und Stroh, womit die Mandingoer ihre Weiber schrecken und bessern.

176

Walthers Physiologie. B. 2.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 2, München 1959–1963, S. 543-553.
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