23. Hundposttag

[838] Erster Besuch bei Klotilde – die Blässe – die Röte – die Renn-Wochen


»Ja, das gesteh' ich,« – sagte Viktor, der am andern Tage nach Klotildens Ankunft in seiner Stube umherlief – »in ein Gewitter oder in ein stürmendes Meer säh' ich herzhafter als in das kleine Gesicht, in einen heitern Himmel von drei Nasenlängen.« Aber er half sich dadurch, daß er einen abgerissenene Fortissimo-Akkord auf dem Klavier anschlug: dann konnte er zu Klotilden. Bloß unterwegs sagte er: »Nirgends wird so viel gezankt als in einem Menschen- Welcher Teufelslärm in diesem fünfschuhigen Disputatorium über den geringsten Bettel, bis nur aus einer Bill eine Akte wird! – Ein tragbarer Nationalkonvent in nuce ist man, ich kann keinen Schritt tun, ohne daß erst die rechte und linke Seite darüber haranguieren, und die enragés und die noirs, und der Herzog von Orleans und Marat. Das Abscheulichste ist im innerlichen Regensburger Reichstage des Menschen, daß die Tugend darin mit zehn Sitzen und einer Stimme sitzt, der Teufel aber mit einem Steiße und sieben Stimmen.« –

Durch diese lustigen Selbergespräche wollt' er sich vom Anblick seiner verworrenen, verstockten, kalt- wunden, immer Joachimen zu Klotilden hinaufhebenden Seele entfernen. Er wurde endlich bloß durch den tugendhaften Entschluß wieder rein ausgestimmt, jetzt die Liebe zu Joachimen nicht zu verstecken – »sich ihrer nicht zu schämen«, hätt' er bald gedacht. »Wenn ich mich gegen Joachime wärmer, und gegen die andre kälter stelle, als ich etwa bin: so müßte der Teufel sein Spiel haben, wenn ichs nicht endlich würde.«

Der hatt' es aber eben, und zwar ein wahres L'hombrespiel zu vier Personen58 mit dem mort: dieser Croupier hatte die einzige Volte geschlagen, daß er das Gesicht Klotildens mit einer ganz andern Farbe ausspielte, als er in Le Bauts Schlosse getan. Viktor fand sie in Schleunes seinem unendlich schöner wieder, als er sie verlassen hatte – blässer nämlich. Da sie keine Nervenpatientin[838] war, keine Kälte mied, sogar in Dezemberabenden allein auf dem Dorfe spazieren ging: so waren sonst ihre Wangen mehr dunkle Rosenknospen als aufgegangene abgebleichte Rosenblätter. Aber jetzo war die Sonne ein Mond geworden – sie hatte in irgendeinem Kummer, wie der Saphir im Feuer, nichts verloren als die Farbe, statt des Blutes schien die stillere, zärtere Seele selber näher durch den weißen Florvorhang zu blicken. Alles Blut, das aus ihren Wangen zurückgewichen war, floß in seine über und stieg ihm wie ein Zaubertrank in den Kopf; indes suchte er sich in diesen den Gedanken zu setzen: »Wahrscheinlich machte sie mehr der Zank mit ihren Eltern, weniger der Kummer, hieher getrieben zu werden, krank!« –

Wenn man sich einmal vorgesetzt hat, sich kalt zu stellen: so wird man es noch mehr, wenn man Ursachen findet, es nicht zu werden. Viktor wurde noch kälter durch Klotildens Eltern, die mitgekommen, und von deren Fehlern ihm auf einmal der Deckmantel weggezogen zu sein schien; an Personen, die man einer dritten wegen zu hoch geachtet, nimmt man, wenn uns die dritte nicht mehr zwingt, durch eine größere Heruntersetzung derselben Rache. Auch sagte er zu sich: »Da sie ihren Bruder Flamin jetzo selten sieht: so wär's einfältig, sie einer verlegnen Minute durch die Erzählung bloßzustellen, daß ich die Verwandtschaft weiß.« – Armer Viktor! – Gleichwohl wars ihm unmöglich, sein Herz nur mit so viel elektrischer Wärme vollzuladen – er rieb es mit Katzenfellen, er schlug es mit Fuchsschwänzen –, als dasein mußte, daß sein Puls wenigstens voll für Joachimen gegangen wäre, geschweige fieberhaft; aber eben dieses bestimmte ihn, sich gerade so zu betragen, als wären Herz und Pulse voller: »Es wäre unedel,« (dacht' er) »wenn es die gute Joachime entgelten müßte, daß ich einmal andere Hoffnungen und Wünsche gehabt als die neuesten.« Diese Aufopferung er wärmte ihn mit eigner Achtung; diese Achtung gab ihm den männlichen Stolz, der mit seiner Liebe und seiner Wahl allen vier Weltteilen trotzt; dieser Stolz gab ihm wieder Freiheit und Freude – und jetzo war er imstande, mit Klotilden zu reden wie ein vernünftiger Mensch.

Diese ganze innere Geschichte nahm freilich einen zwölfmal[839] größern Zeitraum ein als Muhameds Reise durch alle Himmelfast eine gute Stunde. Ein Zufall aber warf sich zwischen alle seine Ideen. Da nämlich die Ministerin eine wahre Gelehrte war – sie wußte, daß ein paar Quarzdrusen und einige Präparate und ein ertränkter Fötus noch keinen Gelehrten machen, sondern erst ein Lehrsaal voll Naturalien und ein Lesekabinett –, und da der Kammerherr Le Baut ein Gelehrter war – denn sein Kabinett war ebenso groß –: so wurde dem Kammerherrn die Sammlung gezeigt, die er selber bereichern helfen. Man sollte denken, sie hätten einander ausgelacht und für Narren gehalten; aber sie hielten sich wirklich für Gelehrte; denn den Großen wachsen die Früchte vom Baume des Erkenntnisses so ins Fenster und ins Maul – sie haben so viele Leichtigkeit, Kenntnisse zu erlangen (daher die zweite, sie zu zeigen) – sie suchen im Brunnen der Wahrheit so selten etwas anders als ihr eignes, mit Wasserfarben gemachtes Kniestück, und in die Tiefe dieses Brunnens zu waten, wäre für sie eine solche Erkältung – und doch gehen sie auf der andern Seite mit so vielerlei Personen von Kenntnissen aus allen Fächern um – – daß sie von allem etwas über der Tafel erfahren und durch die Ohren, durch Mundüberlieferung, wie die Schüler der Alten, Vielwisser werden. Wenn sie nachher gar das, was ihnen ungehört geblieben, vollends zu entbehren wissen, was ist dann zwischen ihnen und den ärmsten Gelehrten für ein Unterschied als der in dem Bewußtsein?

Im Naturalien- und Bücherkabinett lag noch die ganze Neujahr-Ladung von summenden Käfern mit goldnen Flügeldecken ohne Flügel – ich meine die vergoldeten Musenalmanache. Matthieu, dieser Nachahmer der tierischen Nachtigallen, war der Erbfeind der menschlichen, nämlich der Dichter. Er sagte – was in eine Rezension besser gepasset hätte –: »er sei ein großer Freund von Versen, aber im Winter – denn wenn er so durch die Blumen-Beete eines Almanachs streiche, so werd' er, wie einer, der durch ein Bohnenfeld geht, schläfrig genug und könne einschlafen. – Und da gerade die Nächte länger würden, und man also einen längern Schlaf bedürfe, so sei es schön, daß die Almanache gerade mit Winteranfang erschienen, und daß diese Blumen mit den[840] Moosen zu einerlei Jahrzeit blühten – so könne man doch am murmelnden Bache in den Versen einschlafen, wenn das Murmeln und Schlafen auf der gefrornen Wiese nicht mehr gehe.« – –

Unser Viktor war so satirisch wie der Evangelist; er hatte im Hannöverischen so gut wie dieser hier gelacht – z.B. er hatte beklagt, daß die meisten Almanachsänger leider mehr für den Kenner arbeiteten als für dumme Leser und schon zufrieden wären, wenn sie nur jenen in den Schlaf versetzten – daß ein Mensch, der keine Prose schreiben könnte, versuchen sollte, ob er zu keinem Volksänger tauge, wie nur die Vögel, die nicht reden lernen, singen können – daß er einen guten Almanach am ersten und angenehmsten durchbringe, wenn er bloß die Reime durchlaufe – und daß flache Köpfe wie flache Diamanten, denen keine Facetten zu geben sind, zu Herzen würden und uns statt der Gedanken Tränen gäben, in denen nicht einmal das Aufgußtierchen eines Gedankens schwimme....

Aber er sah noch eine Seite mehr als Matthieu, nämlich die edle. – Es war seine Gewohnheit, gerade diese vorzudrehen, wenn ein anderer nur die schlechte gewiesen, und umgekehrt. Seine Meinung war: »die Dichter wären nichts als betrunkene Philosophen – wer aber aus ihnen nicht philosophieren lerne, lern' es aus Systematikern ebensowenig – die Philosophie mache nur die Silberhochzeit zwischen Begriffen, die Dichtkunst aber die erste leere Worte geb' es, aber keine leere Empfindungen- der Dichter müsse, um uns zu bewegen, bloß alles Edle zum Hebel nehmen, was auf der Erde ist, die Natur, die Freiheit, die Tugend und Gott; und eben die Zauberstäbe, die magischen Ringe, die Zauberlampen, womit er uns beherrsche, wirken endlich auf ihn selber zurück.« –

Er legte diese Meinung – als Matthieu die seinige und Joachime ihre eigne vorgetragen, daß nämlich ihr an den Musenalmanachen wenigstens zwei oder drei Blätter gefielen, nämlich die glatten Pergamentblätter – viel kürzer vor; – die Ministerin war der seinigen (denn sie war selber eine Versifexin); – der Kammerherr sagte, »jede Stadt und jeder Fürst bete ja die Dichter in eignen Tempeln an – nämlich in den Schauspielhäusern«; – Klotilde durfte sich nun zu den Siegern schlagen: »Wenn man im Januar[841] einen Dichter lieset, so ists so lieblich, als wenn man im Junius spazieren geht. – Ich kann weder Philosophen noch Gelehrte lesen; es bliebe mir« (sie wollte sagen: ihrem Geschlechte) »daher gar zu wenig, wenn man mir die lieben Dichter nähme.« – »Sie würden höchstens« (sagte endlich der Minister) »Ihre Schüler an ihnen finden; Dichter bekümmern sich, wie die Heiligen, wenig um die Welt und ihr Wissen; sie können den Staat besingen, aber nicht belehren.« – O du grinsende Mumie, dachte Viktor, ein Edelstein, den du nicht als einen Staatsbaustein vermauern kannst, ist dir weniger als ein Sandblock. Wenn du nur jede flammende, als eine Ergänzung der republikanischen Antiken dastehende Seele zu einem Unterschreiber, zu einem Zollkommisar oder Kammerfiskal einsetzen könntest (wie die Großkairer die Ruinen zu Ställen und Pferdetränken verbauen)! – Der edle Matz fügte bloß hinzu: »In Rom war ein Maler, der mit jedem nur singend sprach; und ich kannte einen großen Dichter, der nicht einmal im gemeinen Leben Prose konnte; er konnte aber mehres nicht und hatte wenig Welt, aber viel Welten im Kopfe – er wird, wenn er sich drucken lässet, seinen Lesern kaum mehre Täuschungen geben, als ihm jeder schon gemacht hat, der wollte.«- – Viktor sah aus Klotildens gesenktem Auge, daß sie so gut wie er merke, daß der Teufel ihren Dahore meine; aber er schwieg; seine Seele war traurig und erbittert; aber er war längst durch den Hof die zu ertragen abgehärtet, die er hassen mußte.

Unter dieser Disputation hatte der edle Matz die ganze Gruppe unvermerkt in schwarzem Papier nachgeschnitten. »Ach!« sagte Joachime, »das ist nicht das erstemal, daß er Gesellschaften schwarz abbildet.«-Da aber Viktor Silhouettengruppen niemals sehen konnte, ohne an uns zerrinnende Schatten-Menschen, an dieses versiegende Zwerg-Leben, an die auf das Leben gezeichneten Nachtstücke und an die Schattenpartien, die man Völker nennt, zu denken – und da ihn daran außer seiner Traurigkeit und außer einem Wachs-Skelett von Mad. Biheron, das im Naturaliensaale mit dastand, noch mehr die blasse Gestalt Klotildens erinnerte und da diese, mit den vergleichenden Augen auf dem Gerippe und dem Schattenbilde? leise zu Viktor sagte: »Mich könnten zu[842] einer andern Zeit so viele Ähnlichkeiten traurig machen« – so durchschnitt sein volles Herz der scharfe Schmerz über seine ewige Armut und über die Gewißheit: »Dieses schöne Herz bewegt sich nie für deines, und wenn ihr Freund Emanuel gestorben ist, bleibst du immer allein« – und er trat ans Fenster, drehte es hart auf, schlang den Nordwind ein, zerdrückte mit der Faust die zwei Augäpfel und ging mit den – vorigen Zügen wieder zu den andern.

Aber für heute hatten solche Erschütterungen zu tief in sein Herz hineingerissen. Und da ihm Klotilde in einer einsamen Sekunde sagte, daß die Pfarrerin und Agathe über sein Außenbleiben zürnten: so war er, dem sich bei diesen Namen die ganze bewölkte Vergangenheit wie ein Himmel auftat, nicht imstande eine Antwort zu geben.

Als er nach Hause kam, redete Klotildens Stimme, die er unter allen ihren Reizen am wenigsten vergessen konnte, unaufhörlich und wie das Echo eines Trauergesangs in seiner Seele... Leser, wenn das, was du liebtest, lange verschwunden ist aus der Erde oder aus deiner Phantasie, so wird doch in Trauerstunden die geliebte Stimme wiederkommen und alle deine alten Tränen mitbringen und das trostlose Herz, das sie vergossen hat! ... Aber nicht bloß ihre Stimme, sondern alles drängte sich im Finstern um seine Phantasie, ihr bescheidenes Auge, das nicht hofmäßig blitzte und ertrotzte und suchte, wie der andern ihre, diese behutsame Feinheit, die ihm seit seinem Hofleben weder an ihr noch an seinem Vater mehr zu groß vorkam – dazu setze man noch das Bild Joachimens und sein Chaos von Widersprüchen und die Bemerkung, daß ein Mensch, den die gewissesten Beweise, ungeliebt zu sein, beruhigt haben, doch bei einem neuen wieder leidet: so kennt man die Bewegungen, die der Schlaf, diese Meerstille des Lebens, bei ihm stillen mußte.

»Das war das letzte Fieberschauer«, sagt' er am andern Morgen und bauete auf sein jetziges Herz, dessen Entzündungen wie die der Vulkane täglich ihren Kessel mehr ausbrannten. Er gebot sich daher eine wöchentliche Flucht vor der zu teuern Seele, in der Absicht, daß der neue Nachklang seiner Liebe in seinem Herzen auszittere und alles wieder still werde darin.[843]

Aber nach einer Woche sah er sie wieder: wahrlich, der Teufel saß wieder am Spieltisch und spielte gegen ihn eine andere Farbe aus – Rot. Klotilde sah nicht blaß, sondern, obwohl nur wenig, rot aus. Dieses Rot machte an seinem innern Menschen einen großen Klecks und verfälschte sein inneres Kolorit, wie Schwarz jede Malerfarbe. Denn als er sie genesen wiederfand: so wars ihm nicht sowohl angenehm – denn er sah, wie wenige Verdienste er mehr um ihre Ruhe habe, wie sie ihn nicht einmal in diesem Warenlager von Menschen-Makulatur aushebe, und wie dumm er gewesen, daß er sich heimlich, ganz heimlich träumen lassen, »ihre vorige Bleichheit komme gar von ihrer vergeblichen Sehnsucht nach ihm seines Orts her« –, desgleichen wars ihm auch nicht unangenehm – denn er hätte all sein Herzblut dahingegossen, um damit eine einzige Pulsader in ihr wieder in den Gang zu bringen-, ich sage, es war ihm nicht sowohl angenehm oder unangenehm als beides, als unerwartet, als ein Wink, des – Teufels zu werden. Sein Herz und das Bild, das zu lange darin war, wurden gar entzweigedrückt: »Es sei!« sagt' er und zerbiß die krampfhafte Lippe, womit ers sagte. – Einige Tage lang mocht' er nicht einmal Joachime sehen. »Hat diese denn ein Auge für die Natur und ein Herz für die Ewigkeit?« fragt' er, und er wußte wohl die Antwort.

Jetzo ging eine Zeit für ihn an, die gerade das Gegenteil der Sabbatwochen war – man kann sie die Renn-Wochen oder die Tarantel- Tanzstunden der Besuche nennen. Es ist eine verdammte Zeit, der Mensch weiß nicht, wo er steht. Sie fiel bei Viktor gerade in die Wintermonate, wo ohnehin die sausenden Butterwochen der Städte und Höfe sind. Ich will sie jetzt ordentlich schildern.

Viktor suchte nämlich sein uneiniges unglückliches Herz zu überschreien und zu betäuben – nicht mit den Trommelwirbeln der Lustbarkeiten; unter diesen verblutete es vielmehr, so wie unter dem Trommeln die Wunden stärker fließen: sondern – mit Menschen; diese waren die blutstillenden Schrauben, die er um seine Seele legte. Sein Leib war jetzt wie der katholische Reliquienleib eines Apostels an allen Orten; er verlief den ganzen Tag, bald mit, bald ohne den Fürsten.[844]

In Flachsenfingen war zuletzt keine Dame mehr, der er nicht die Hand geküsset hatte – und kein Nachttisch mehr, wo ers dabei hätte bewenden lassen.

Er machte in den Rennwochen doppelte Schleifen – französische Pas – Tupfdesseins – kleine Komödien – Scharaden – Rezepte für Kanarienvögel – Verse für Fächer – tausend Besuche – und noch mehr Morgen-Briefchen....

Letzte, die er bekam und schickte, waren französisch geschrieben und französisch gebrochen – nämlich zu Haarwickeln gequetscht: »Es sind«, sagt' er, »die Haarwickel weiblicher Gehirnfibern – die Patronen voll Amors-Pulver – die Kokons der liebenden Schmetterlinge« – er sprach vom Steigen und Fallen dieser weiblichen Papiere und nennte sie noch die Aushängebogen des weiblichen Herzens und die Schmutztitelblätter der koketten Edikte von Nantes. »Ich behaupte dies,«- setzt' er hinzu – »um mich vom Hofjunker Matthieu zu unterscheiden, ders leugnet, weil er gar verficht, anfangs dringe man den Schönen Briefe auf, dann Dinge von mehr Kubikinhalt, z.B. Fächer, Juwelen, Hände, dann endlich sich selber, so wie die Posten anfangs nur Briefe aufnahmen, dann Pakete, endlich Passagiere.«

Er fand diejenigen Weiber täglich amüsanter, die uns Leuten von Verstand das Herz aus der Brust und das Gehirn aus dem Kopf entwenden, und zwar (wie jener Edelmann anderes Zeug) nicht aus Liebe zum gestohlnen Gute, sondern aus Liebe zum Rauben- sie schicken wie der Edelmann den andern Morgen das Gut dem Eigner redlich wieder zu. Ihre Feinheiten – die seinigen – seine Wendungen, um ihren auszuweichen – die Aufmerksamkeit, die man auf sich wenden muß – die Gelegenheit, alle Empfindungen unter die feinsten Trennmesser zu bringen, oder unter Sonnen- und Mondmikroskope – die Leichtigkeit, den aufrichtigsten Wahrheiten den sauern Geschmack und den angenehmsten den süßlichten zu benehmen – – dieses machte ihm die Nachttische der Weiber, besonders der koketten, zu Lektisternien und Göttertischen: »Beim Himmel,« sagte der Nacht-Tischgänger oder Toiletten-Panist, »ein Mann ist bloß ein Holländer, höchstens ein Deutscher, aber eine Frau ist eine geborne Französin oder gar[845] eine Pariserin – der Mann verbirgt seine moralische wie seine physische Brust – Gedanken und Blumen, die nicht durch die Raufen der vier Fakultäten durchfallen, Empfindungen, die nicht in den Akten oder in einem ärztlichen Befundzettel können beschrieben werden, muß man wahrlich nur einer Frau und keinem Manne sagen, zumal einem flachsenfingischen« ... oder einem scheerauischen. –

Um sich zu entschuldigen, daß er mit den Koketten auf dem Fuß eines Sammliebhabers umging, berief er sich auf seine Absicht- sie bloß kennen lernen zu wollen – und auf den vortrefflichen Forster, der in Antwerpen vor Rubens' Maria, die auf dem Altarblatt gen Himmel fährt, so gut wie ein geborner Katholik hinkniete, bloß um sie näher zu beschauen.

Er hatte noch eine gefährlichere Entschuldigung: »Der Mensch«, sagte er, »sollte alles sein, alles lernen, alles versuchen – er sollte an der Vereinigung der beiden Kirchen in seiner Seele arbeiten er sollte, wenn nur auf ein paar Monate, ein Stadtmusikus, Totengräber, Galgenpater, ein Ingenieur, Tragödiensteller, Oberhofmarschall, ein Reichsvikarius, Vizelandrichter, ein Rezensent, eine Frau, kurz alles sollte der Mensch auf einige Tage gewesen sein, damit aus dem Farbenprisma zuletzt die weiße vollkommne Farbe zusammenflösse.« –

Die Grundsätze werden desto gefährlicher bei einem wie er, der, mit den hochgespannten Saiten der unähnlichsten Kräfte bezogen, leicht den Ton eines jeden angab, nicht aus Verstellung, sondern weil sich seine Umgangs-Dichtkraft tief in die Seele des andern versetzen konnte – daher gewann, ertrug und kopierte er die unähnlichsten Menschen, ungeachtet seiner Aufrichtigkeit. Ich bedaure ihn aber, daß er überall so viel zu verschweigen hatte, sein Erraten des Fürsten, sein Herz gegen Klotilde, seine Versöhn-Intrigen gegen Agnola, seine Wissenschaft von Flamins Verhältnissen u.s.w. Ach Verschweigen und Verstellen fließen leicht zusammen, und müssen nicht Tropfen in den festesten Charakter, sobald er immer unter der Traufe steht, endlich Narben graben?

Nichts erkältet mehr die edelsten Teile des innern Menschen als Umgang mit Personen, an denen man keinen Anteil nehmen kann.[846] Dieses Gastwirtleben am Hofe, täglich Leute zu sehen, die nicht einmal Ich sagen, deren Verhältnisse man so gleichgültig unkennt wie deren Talente, wenn sie nicht ein Bedürfnis sucht – dieses Haschen nur nach dem nächsten Augenblick – dieses Vorüberrennen der feinsten und geistreichsten Fremden und Besuchameisen, die in drei Tagen vergessen sind – alles dieses, was die Paläste zu russischen Eispalästen macht, wo sogar der Ofen voll Naphthaflammen eine Eisscholle ist, wozu ich das komische Salz gar nicht zu setzen brauche, das ohnehin alles warme Blut, wie glauberisches das heiße Wasser, erkältet, alles dieses machte sein Herz öde, seine Tage kahl und lästig, seine Nächte beklommen, sein Betragen zu kalt gegen Gute, zu duldend gegen Schlimme.

Noch dazu schwieg sein Emanuel und schloß, wie die Natur, seine Blumen in sich ein. – Wen die Natur ernährt und erhebt, der ist im Winter nicht so gut als im Sommer. Die Erde hatte ihren Pudermantel von Schnee um und den ganzen Tag die Nachtkleidung an, die Bäume hatten ihre Knospen in die Flocken- Papilloten gewickelt, und die Äste sahen wie Haarnadeln aus – Viktors Seele war wie die Natur; o! der Himmel wärme bald in beiden die Blumen des Frühlings an!

Da die Krankheitgeschichte meines Viktor mich zu schmerzhaft an die versteckten Gifte im menschlichen Körper erinnert: so soll sie bald zu Ende sein. Es gefiel ihm, daß er durch das Herumflattern immer galanter und kälter gegen alle weibliche Personen wurde – das Seil der Liebe schneidet weniger tief in den Busen ein, wenn es, in Fäden und Flocken ausgezupft, um alle flattert. Er, der, wie sein Namenvetter, der heilige Sebastian, ganz mit (Amors) Pfeilen vollgeschossen aussah, ließ Pfeile anderer Art gegen das ganze Geschlecht, wiewohl nie gegen Einzelwesen, fliegen. In diesem letzten Umstand war seine Bitterkeit von Matthieus seiner unterschieden, der z.B. von seiner eignen Base, die ihre Schönheit durch späte Blattern verloren, sagen konnte: »Ihre Schönheit hielt sich recht tapfer gegen die Blattern und trug aus diesem Siege die herrlichsten Narben davon, und zwar alle, wie Pompejus' Ritter, von vornen im Gesicht.«

Wie Teufelsdreck zum haut-gout gebracht wird, so würzet man[847] das feinste savoir vivre durch einige kühne Unhöflichkeiten. Bastian war in der Tarantelzeit durch nichts verlegen zu machen – er ging und kam wie ein Pariser ohne Umstände – er suchte oft kühne, aber vorteilhafte Stellungen seines Körpers – unter dem Schauspiel tat er Reisen durch die Logen, wie der Fürst durch die Kulissen – er brachte es (obwohl mit Mühe, und nur indem er sich immer das Muster der Hofleute vorhielt) fünfmal dahin, daß er gleichgültig zuhörte oder gar wegschauete, wenn ihm der andere erzählte; welches alles, wenn nicht wesentliche, doch Nebenstücke der wahren Höflichkeit sind.

Auch will ich zu seinem Ruhm nicht unbemerkt lassen, daß er sich die ordentlichen erotischen und satirischen Freiheiten der gallikanischen Kirche gegen mehre Weiber auf einmal nahm; denn vor einer einsamen hatt' er noch die alte Ehrerbietung eines edlen Herzens. Ich will von jenem doch ein Beispiel gehen. Einmal war er unter fünf Verleumderinnen (die Gesellschaft bestand aus sechs Frauenzimmern und einer Mannsperson); die häßlichste schwärzte alle, sogar gedruckte Mädchen an, z.B. die verstorbene Klarisse, der sie vorrückte, sie habe gegen Lovelace nicht genug gewußt sauver les dehors de la vertu. Man muß es gewärtig sein, wie die Königsberger Schule es in ihren Rezensionen aufnimmt, daß er sich vor der Verleumderin auf ein Knie hinließ und mit einigem Ernst sagte: »Clarisse! Voici Votre Lovelace, retranchons quatre tomes et commençons comme les faiseurs d'Epopées par le reste.59«

Freilich warf er sich die Tarantelzeit häufig unter der Tarantelzeit vor; und da der Heidenvorhof seines Herzens so voll Weiber wurde, indes im Allerheiligsten desselben nichts war als ein stummes Dunkel, und da sein Kopf ein Insektenkabinett von Hofkleinigkeiten wurde: so seufzete er freilich oft in seinem Erker: »O! komme bald, guter Vater, damit dein sinkender Sohn aus diesem schmutzigen Märznebel in ein helleres Leben steige, eh' er sich ganz befleckt hat, daß er nicht einmal diesen Wunsch mehr tut« – und sooft er in Joachimens Zimmer die Prospekte von[848] Maienthal – welche Giulia vom Porträtmaler Klotildens machen lassen – zu Gesichte bekam: so zog er mitten im Scherzen das Auge von ihnen mit einem Seufzer weg – – Aber geheilt wurd' er nicht, als bis das Schicksal sagte: jetzt! Da klopfte der Theaterschlüssel auf einmal, der die Menschen in der Schauspielerprobe des Lebens – das Schauspiel selber wird erst im zweiten gegeben – kommen und handeln heißet; und es trug sich etwas zu, was ich sogleich im folgenden Kapitel berichten werde, wenn ich in diesem auserzählet habe, wie Viktor mit allen Leuten um sich her stand.

Mit manchen eigentlich schlecht – erstlich mit Klotilden. Sie wohnte zwar bei dem Minister – als Hofdame hätte sie ins Paulinum gehört, allein der Fürst hatte es wegen der Leichtigkeit, sie zu sehen, so karten lassen –, aber sie war immer um die Fürstin, mit der sie bald ein ähnlicher Ernst und eine ähnliche Zurückhaltung verknüpfte. Ihre Gleichgültigkeit gegen einen, der mit ihr einen gemeinschaftlichen Freund und Lehrer hatte, gab diesem Viktor eine noch größere, zumal da er wußte, sie müßte fühlen, daß in dieser kalten Berg- und Hofluft nur ein einziger, obwohl falber Nelken-Absenker ihrer schönen Seele blühe, er selber nämlich. Auch mußte ihm der Zwang des Wohlstandes, sie kalt anzuschauen, zur Gewohnheit werden. Am schlimmsten wars für ihn, daß sie gleichgültig war ohne Empfindlichkeit und kalt mit Achtung für ihn. Andere waren ganz toll über das »tugendhafte Phlegma dieser Pygmalions-Bildsäule.« Der edle Matz nannte sie oft die heilige Jungfrau oder die Demoiselle Mutter Gottes. Es konstiert und erhellet ganz deutlich aus den vor mir aufgeschlagenen Hunds- Manualakten, daß einige Herren vom Hofe nach verschiedenen verdorbnen Versuchen, sich die mit so vieler Schönheit unverträgliche Tugend zu erklären, bald aus Temperament, bald aus verhehlter Liebe, bald aus einer koketten Sprödigkeit, die sich wie das Wasser bei St. Clermont endlich zur eignen Brücke über sich selber versteinert, daß diese listigen Herren recht glücklich auf die Vermutung verfielen, Klotilde nehme diese Maske als eine Kopie des Gesichts der Fürstin vor ihres, um in der Gunst zu bleiben. Daher wurde Klotildens züchtige Tugend von den meisten mit größerer Schonung beurteilt, indem man sie als eine absichtliche[849] Nachahmung des ähnlichen Fehlers der Fürstin schon entschuldigen konnte durch das Beispiel ähnlicher Nachahmungen, da Hofleute oft die größten äußern Naturfehler, ja die Tugenden eines Regenten nachäfften. – So dachte wenigstens der billigere Teil des Hofes.

Agnola war unserem Helden einen immer größern Dank für die Besuche Jenners zu zeigen beflissen, ob sie gleich, denk' ich, die untreue Absicht des Fürsten in der Gegenwart Klotildens ebensogut entdecken konnte, als sie zuweilen in Viktors Seele bei der Gegenwart Joachimens blicken mochte... Überhaupt hätt ich den Leser längst bitten sollen aufzupassen: ich trage die Sachen mit erlaubter Dummheit vor, obwohl mit historischer Treue; sind nun feine, spitzbübische, wichtige, intrigante Züge und Winke darin, so ists ohne mein Wissen, und ich kann sie also dem Leser nicht anweisen mit einer Zeigerstange, oder ansagen mit einer Feuertrommel, sondern er selber – weil er Hofgeschichten versteht – muß wissen, was ich mit meinen Winken haben will, nicht ich.

Mit Joachimen wäre Viktor recht gut gefahren – da er alle Fehler, die er bei andern Weibern und nicht bei ihr antraf, ihr als Tugenden in Rechnung brachte, und da er sich mit ihrem Ich mehr verflocht; denn die Fehler der Mädchen kommen wie Schokolade und Tabak dem Gaumen anfangs desto toller vor, je besser sie ihm nachher schmecken – er wäre gut gefahren, ohne zwei Ecksteine; aber die waren da. Der erste war – denn ich will seine kleine Ärgernis über die kurze Dauer ihrer schönen Weihnacht- Empfindsamkeit nicht rechnen –, daß sie immer Klotilden tadelte, besonders ihre »affektierte« Tugend. Der zweite war, daß Klotilde sie ebensowenig suchte: Viktor konnte niemand lieben, den Klotilde nicht liebte. – Und jetzt sind die Rennwochen und Visiten-Taranteltauzstunden eines Menschen zu Ende; aber ach die ganze Nachwelt muß noch dieselbe heiße Linie der Narrheit und Jugend passieren.[850]

58

Joachime, Klotilde, Viktor und der Teufel.

59

d.h. O Klarisse! Da haben Sie Ihren Lovelace, wollen wir die vier ersten Bände überspringen und wie Epopöendichter gleich beim Oberrest anfangen.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 1, München 1959–1963, S. 838-851.
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