Die göttlichverkannte Phillis im Walde

[252] 1763.


Als jüngst der Hirsch voll Liebesflamme

Sein Thier verfolgte, das ihn floh,

Da stand an einem Birkenstamme

Der alte Jäger Sylvio.


Ein Greis ist er, und noch verstocken

In ihm des Lebens Säfte nicht,

Ihm flattern taubenweiße Locken

Um rosenfarbnes Angesicht.


Betrachtend stand vom Messerschnitte

Verwachsen in den starren Baum:

Da rauschten meiner Phillis Tritte

Vorbei und ihres Kleides Saum.


Zurück fuhr Sylvio der Alte,

Ihr Götter! rief er, ja sie rauscht

An mir vorbei, die wohlgestalte

Diana, die das Wild belauscht.
[252]

Welch eine Miene! welche Wangen!

O, Phöbus! welch ein Angesicht!

Sie kann den Hirsch durch Blicke fangen

Und brauchet Pfeil und Bogen nicht.


Fleuch nicht, Diana! bleib, ich schlachte

Zum Opfer dir ein junges Reh,

Das ich so zahm wie Lämmer machte,

So weiß ist es wie neuer Schnee.


Ich will dir einen Eber würgen,

Der trotzig durch Moräste brach,

Dem ich vergebens auf Gebirgen

Und in Gebüschen spähte nach.


Ich will ihn finden, o Diane!

Drei Liebesgötter helfen mir.

Mein Wurfspieß trift trotz seinem Zahne,

Zu Füßen soll er bluten dir –


Ha! welch ein Blick! mich zu verachten?

Nun will ich dir auf diesem Block

Kein weißes Reh zum Opfer schlachten,

Nein, einen schwarzen Ziegenbock.
[253]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 252-254.
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