Auf der Landstraße

[139] Zieht eine arme Pilgerin,

Gebückt und schwach, am Bettelstab,

Zur gnadenreichen Jungfrau hin;

Der Rosenkranz rollt auf und ab,

Obwohl er sie nicht hindern kann

Auch ihres Leibes zu gedenken

Und auf den rüst'gen Wandersmann

Demütig ihren Blick zu lenken.


»Mein junger Herr! erbarmet Euch,

Wie Gott Euch mög barmherzig sein!

Er geb Euch einst sein Himmelreich

Und seinen Segen obendrein!« –

»Ich glaube nicht an deinen Gott,

Für den dort deine Kugeln rollen!

Drum schien' es selbst mir arger Spott,

Würd ich dir eine Gabe zollen.«
[139]

Doch weiter ihrer Rede Lauf:

»Gott segne Euer junges Haupt

Und heb Euch seinen Segen auf,

Bis Ihr allendlich an ihn glaubt!«

Und dankend nimmt sie meinen Sold

Und betet fort auf ihren Wegen –

Ich habe mich davongetrollt

Mit ihrem christkathol'schen Segen.


Bei allen Göttern dieser Welt

Leg ich ein kleines Sümmlein an:

Sagt, wenn dereinst der Würfel fällt,

Ob es mir wohl noch fehlen kann?

Und leugnen alle einst die Schuld,

Ich weiß gewiß, es hat mein Lieben

Der wahre Gott in seiner Huld

Mir zahlbar dann und gut geschrieben!


Ein schrankenloser Leichtsinn soll

In diesem Streit mein Schildknapp sein!

So leb ich mut- und freudenvoll,

Solang nur Herz und Sinne rein.

Ich lieb es, so mir halb bewußt

Am offnen Abgrund hinzustreifen;

Und über mir laß ich mit Lust

Das Aug ins grundlos Blaue greifen!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 139-140.
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