Stein- und Holz-Reden

[138] Auf der Lüneburger Heiden,

Da steht ein alter Stein,

Dabei eine alte Eiche,

Die mag wohl tausendjährig sein!


Es ziehn vorüber Gesellen

Zwei oder drei mit Sang,

Die singen von deutscher Freiheit,

Auf weiter Heid' verhallt der Klang!


Da spricht der Stein zur Eiche,

Als wie erwacht vom Traum:

»Ging nicht die Freiheit vorüber?

Wach auf! wach auf, du deutscher Baum!«


Und durch die Krone fahre

Ein lauter Saus und Braus,

Es schlagen die moosigen Zweige

In tausend grüne Blätter aus.
[138]

Die Gesellen sind gezogen

Schon fern durchs Heidekraut!

Und die Eiche hat ihnen

Gar bang und traurig nachgeschaut!


Es kreischen ein paar Möwen

Verdächtig hin und her,

Die machen der grauen Eichen

Das Herz so düster und so schwer!


»Nun will ich wiederum schlafen«,

Spricht sie zum alten Stein,

»Du wunderlicher Träumer,

Sollst mir nun einmal ruhig sein!«


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 138-139.
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