Wanderlied

[136] Nun will ich gehn und wandern

Früh bis zum Abend spät,

So weit auf dieser Erde

Die Sonne mit mir geht!


Ich nehme nichts mit als den Becher,

Mein leichtes Saitengetön;

Ich wundre mich über die Maßen,

Wie's überall so schön!


Die Ebne ist oft schöner

Als meine Berge noch,

Und wo kein blauer Himmel,

Gibt's rote Wolken doch.


Wo keine schmachtenden Lotos,

Wächst blühendes Heidekraut,

Wo keine gotischen Dome,

Sind jonische Tempel gebaut.


Und bin ich des Griechischen müde,

Mich lockt die luft'ge Moschee:[136]

Ich kleide in maurische Schnörkel

Mein europäisches Weh!


Nur eine süße Blüte,

Die mangle ich überall,

Von einem süßen Namen

Den reinen Silberschall.


Hallo, du muntrer Jäger!

Sag an, du Bergmann traut!

Hast du, o stiller Fischer,

Mein Liebchen nicht geschaut?


Mein Liebchen ist die Freiheit,

Ich suche sie kreuz und quer –

Sie ist doch nicht ertrunken

Im alten falschen Meer?


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 136-137.
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