Schlechte Jahreszeit

[256] Wo ist der schöne Blumenflor,

Den wir so treu gehegt?

Vom Hoffen und vom Grünen sind

Herz, Garten kahlgefegt!

Und wie in einer Nacht ergraut

Ein unglückselig Haupt,

Hat sich heut nacht das Vaterland

Geschüttelt und entlaubt!


Der Rhein entführt ins Niederland

Die welke Sommerlust,

Läßt öd und fahl die Felder uns,

Den Frost in unsrer Brust.

Die Silberfirnen hüllen sich

In dunkle Wolken ein;

Doch bald wird jeder Kehricht nun

Ein blanker Schneeberg sein!
[256]

Und alles wird so klein, so nah,

So dumpf und eingezwängt;

Wie drückend ob dem Scheitel uns

Der graue Himmel hängt!

Auf jedem Kreuzweg sitzt ein Feind –

Es ist ein harter Stand:

Mit Schurken atmen gleiche Luft

Im engen Vaterland!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 256-257.
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