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[277] Und wieder grünt' der schöne Mai,

O dreimal selige Zeit!

Wie zog die Schwalbe froh herbei,

Mir ward es im Gemüt so frei,

Das Herz so leicht und weit!


O fremde Luft, o schönes Land

In Bergen und Gefild!

Wie reizend fand ich diesen Strand,

Allwo mein suchend Auge fand

Ihr leicht hinwandelnd Bild!


Ich sah des Sommers helle Glut

Das deutsche Land durchziehn;

Es tobte dunkler Wetter Wut,

Aus freien Herzen sah das Blut

Ich wild und heiß entfliehn.


Doch ich sah in verliebter Ruh

Die schwülen Wolken gehn;

Ich wandte mich den Blumen zu

Und sprach: »Vielleicht, mein Herz, wirst du

Ein andres Herz erstehn!«
[277]

Die Traube schwoll so frisch und blank,

Und ich nahm froh und frei

Aus ihrer Hand den jungen Trank –

Und als die letzte Traube sank,

Da war der Traum vorbei!


Der Traum! – Jedoch die Wahrheit nicht,

Die ich von hinnen trug,

Die bis zum Tode in mir spricht:

Sie ist und lebt im Sonnenlicht,

Dies sei dir, Herz, genug!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 277-278.
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