Der Taugenichts

[188] Die ersten Veilchen waren schon

Erwacht im stillen Tal,

Das Bettelpack schlug auf den Thron

Im Feld zum ersten Mal.

Der Alte auf dem Rücken lag,

Die Mutter wusch am See;

Bestaubt und unrein schmolz im Hag

Das letzte Häuflein Schnee.


Der Vollmond warf den Silberschein

Dem Bettler in die Hand,

Bestreut' der Frau mit Edelstein

Die Lumpen, die sie wand;

Ein linder West blies in die Glut

Von einem Dorngeflecht,

Drauf kocht' in Bettelmannes Hut

Ein sündengrauer Hecht.


Da kam der kleine Betteljung,

Vor Hunger schwach und matt,

Doch glühend in Begeisterung

Vom Streifen durch die Stadt,

Hielt eine Hyazinth empor

In dunkelblauer Luft;

Die Blume war von seltnem Flor

Und selig süß ihr Duft.
[188]

Der Vater rief: »Wohl hast du mir

Viel Pfennige gebracht?«

Der Knabe rief: »O sehet hier

Der Blume Zauberpracht!

Ich lag am goldnen Gittertor

Vom Morgen bis zur Nacht,

Die Blume aus dem Wunderflor

Zu stehlen nur bedacht!


Seht nur, wie vornehm und wie fein,

Wie zierlich sie gebaut!

Ich habe starr nach ihrem Schein

Den ganzen Tag geschaut.

O schlaget nicht mich armen Wicht,

Laßt euren Stecken ruhn!

Ich will ja nichts, mich hungert nicht,

Ich will's nicht wieder tun!


O sehet nur, ich werde toll,

Die Glöcklein alle an!

Ihr Duft, so fremd und wundervoll,

Hat mir es angetan!

Auch alle Blumen nun im Feld

Lieb ich von heute an;

Die Hexe, welche neue Welt

Hat sie mir aufgetan!« –


»O wehe mir geschlagnem Tropf!«

Brach nun der Alte aus;

»Mein Kind kommt mit verrücktem Kopf

Anstatt mit Brot nach Haus!

Du Taugenichts, du Tagedieb

Und deiner Eltern Schmach!«

Und rüstig langt' er Hieb auf Hieb

Dem armen Jungen nach.
[189]

Im Zorn fraß er den Hecht, noch eh

Er gar gesotten war,

Warf weit die Gräte in den See

Und stülpt' den Filz aufs Haar.

Die Mutter schmält' mit lindem Wort

Den mißgeratnen Sohn,

Der warf die Blume zitternd fort

Und hinkte still davon.


Es perlte seiner Tränen Fluß,

Er legte sich ins Gras

Und zog aus seinem wunden Fuß

Ein Stücklein scharfes Glas.

Der Gott der Taugenichtse rief

Der guten Nachtigall,

Daß sie dem Kind ein Liedlein pfiff

Zum Schlaf mit süßem Schall.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 188-190.
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