Winternacht

[195] Nicht ein Flügelschlag ging durch die Welt,

Still und blendend lag der weiße Schnee,

Nicht ein Wölklein hing am Sternenzelt,

Keine Welle schlug im starren See.


Aus der Tiefe stieg der Seebaum auf,

Bis sein Wipfel in dem Eis gefror;

An den Ästen klomm die Nix herauf,

Schaute durch das grüne Eis empor.
[195]

Auf dem dünnen Glase stand ich da,

Das die schwarze Tiefe von mir schied;

Dicht ich unter meinen Füßen sah

Ihre weiße Schönheit Glied für Glied.


Mit ersticktem Jammer tastet' sie

An der harten Decke her und hin.

Ich vergeß das dunkle Antlitz nie,

Immer, immer liegt es mir im Sinn!

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 195-196.
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