Sechster Brief.

(in dem vorhergehenden eingeschlossen.)

An den jüngern Herrn Bröck in Amsterdam.

[60] Walldorf den 10ten Merz 1770.


Bist du noch der Freund eines Unglücklichen, oder verlässest auch Du den, der vom Schicksal und allen Menschen verlassen ist? – Ach! wenn Du das könntest, wie würde es mich reuen, Dir den Triumpf zu geben, gegen Dich klagen zu müssen – Wenn Du fähig wärst, mit kaltem Blute diesen Brief wieder zusammen zu legen, und auszurufen: »So geht es, wenn man guten Rath verachtet, und ein aufbrausender Jüngling seinem Kopfe folgt« – Doch nein! Theuerster, ewig Geliebter! Verzeyhe mir, mein Elend machte mich einen Augenblick ungerecht. Du bist noch der einzige[60] gute Mensch, den ich in dieser verdorbenen, grausamen, gefühllosen Welt angetroffen habe. Du wirst mir auch eine süße Thräne des Mitleids nicht versagen – Gott! das ist ja alles, warum ich Dich bitte, denn an Versöhnung mit meinem harten Vater darf ich nun nicht denken –

So höre denn wie, von dem Augenblicke meiner Flucht an, Jammer auf Jammer gehäuft, Deinem armen, armen Freunde das hartnäckigste Schicksal auf jedem Fußtritte gefolgt ist – O! wie gern wollte ich leiden, Hunger, Durst, Armuth und Verachtung leiden! Aber der Anblick meiner himmlischen Sophie, ihre duldende Sanftmuth, der Gedanke, daß ich vielleicht auf den Rest ihres Lebens Mangel und Elend bereitet habe, erstickt mein Herz – Wie lange werde ich diese Last, die schwer auf meiner Seele liegt, ertragen können! –[61]

Ich dachte: »In dieser Welt, wo so mancher Unterdrückter, Verwahrlosete sein Brod im Schweiße seines Angesichts erwirbt, werde ja auch ich ein Winkelchen finden, wo ich, fern von denen, die mich nicht glücklich sehen wollen, an der Seite eines lieben Weibes, Ruhe, stille Freude, und mäßigen Unterhalt finde. Ich bin nicht ungeschickt, und wenn meine Talente mir kein Brod gewinnen können; so habe ich doch ein Paar gesunde Arme zur Arbeit. Sophie wird Weiberputz machen, wir werden leicht so viel verdienen, als die Mäßigkeit verlangt, und so unter einem Strohdache beneidenswürdig glücklich seyn.« Ich wagte es, versuchte es vorher noch einmal meinen Vater zu rühren – aber vergebens – Sophie warf sich mir in die Arme – Wir flohen – Der Wind schwellte die gespannten Segel – Wir sahen die schönsten Gegenden, vom jungen Frühling begrüßt, zur Seite liegen, und traten endlich, mit heiterer Stirne, in ... ans Land.[62]

So bald wir uns hier sicher glaubten war mein erster Gang, einen Geistlichen aufzusuchen, der uns auf ewig verbände. Es wurden uns unerhörte Schwierigkeiten gemacht, bis endlich einer sich (ich sage ungern dies Wort) erkaufen ließ, uns einzusegnen – Ach! hättest Du hier meine Sophie gesehen, wie sie, mit jungfräulicher Sittsamkeit und sanfter Freude da stand, und dem Schöpfer aus reinem Herzen Dank brachte, daß er unsre Wünsche erhört hätte! –

Wir eilten darauf, uns nach einer kleinen Wohnung umzusehen – Ich hatte ohngefehr dreyßig Ducaten noch übrig, mit denen ich vorerst zu leben hofte, bis der Himmel uns einige Aussicht etwas zu erwerben zeigen würde.

Es hatte die letzte Tagereise ein Franzose, Mr. de la Saltière, mit uns gemacht. Wir wurden nemlich im Wirthshause, wo wir die Nacht zubrachten, mit ihm bekannt. Als[63] wir uns dort ein jeder ein besonderes Zimmer geben liessen, brachte er hierüber eine Art von Scherz vor, die mir freylich nicht gefiel, dennoch schien mir der Bösewicht gesittet, und für einen jungen Franzosen auch noch vernünftig genug, um ihm die Bitte, den kleinen Rest der Reise uns begleiten zu dürfen, nicht abzuschlagen.

Wir hatten ihn des Morgens bey unserer Ankunft in einem Gasthofe verlassen, um einen Prediger aufzusuchen. Darüber war der halbe Tag verstrichen, und als wir endlich des Abends Arm in Arm aus des Predigers Hause kamen, begegneten wir ihm, Gott weiß, ob von ohngefehr, oder durch seine Veranstaltung, aber immer zu unsrem Unglücke, auf der Gasse.

Der Prediger hatte mir Verschwiegenheit, in Ansehung der verrichteten Trauung anbefohlen, also sagte ich auch davon nichts. Er fragte mich aber, ob ich schon eine Wohnung[64] hätte, und als ich dies verneinte, sagte er mir, es würde schwer halten, als ein unbekannter Fremder, die Erlaubniß zu bekommen, in einem Privathause zu miethen, indessen könnten wir uns einmal bey dem Gastwirthe erkundigen, und wolle er uns dahin begleiten.

Diese Zudringlichkeit stand mir wohl nicht recht an, doch war nicht gut ein Vorwand zu nehmen, seine Höflichkeit abzulehnen. Wir giengen also in den Gasthof zurück. Der Wirth bekräftigte des Franzosen Aussage: »Aber, wie ist es möglich« rief ich aus, »daß man einem unverdächtigen Fremden die Erlaubniß verweigern kann, für sein Geld zu leben, wo er will?« – »Das ist nun einmal nicht anders« antwortete er, und betheuerte, daß er dies nicht um seines Vortheils willen sage, sondern ich könne mich darnach erkundigen bey wem ich wollte. Da ich nun niemand in der Stadt kannte, ich aber wohl einsahe, wie theuer ein beständiger[65] Aufenthalt in diesem Gasthofe mir zu stehn kommen würde; so mußte ich es als eine wahre Gefälligkeit ansehn, daß mir Mr. de la Saltière in das Ohr raunte: »Er wisse allenfalls eine Wohnung für uns, bey einer guten alten Frau, die zwar einen Gasthof halte, und also das Recht habe, Fremde aufzunehmen, allein weil sie ziemlich bemittelt sey, und Ruhe liebte, nicht gern jedermann aufnähme; doch wolle er mit ihr reden. Er selbst logiere da, so oft er hierher komme, und die Frau sey äusserst billig.«

Dieser Vorschlag schien mir so uneigennützig, daß ich ihn mit beyden Händen annahm, und er gieng augenblicklich fort, um alles richtig zu machen, nachdem er mir vorher eingeschärft hatte, diesem Wirthe nichts davon zu sagen.

In weniger als einer Stunde kam der Niederträchtige wieder, und berichtete mir, wie er alles in Ordnung gebracht habe, wir[66] könnten nur mit ihm kommen, und dort wegen des Preises bald einig werden. Wir giengen mit einander hin; Meinen Koffer ließ ich im Gasthofe stehen, morgen wollten wir ihn abholen lassen, bis dahin konnten wir uns schon behelfen.

Unser Leiter brachte uns in eine abgelegene Gasse, und führte uns dann durch einen Hof in ein Hinterhaus – »Desto besser!« dachte ich »hier wohnen wir um so stiller und unbemerkter.« Die Wirthinn, eine große dicke Frau kam uns bey der Thür entgegen, gab uns vertraulich die Hand, und wies uns, zwey Treppen hoch, zwey von einander entlegene Zimmer an. Da ich nun dem Franzosen nicht hatte sagen wollen, daß Sophie itzt meine Frau wäre; so mußte ich diese Einrichtung mehr seiner Delicatesse, als einer andern Ursache zuschreiben. Ich stellte mich also vorerst darüber zufrieden, und dachte, wenn er, seiner Versicherung gemäß, in einigen Tagen weiter reisen würde, könnte ich[67] noch immer eins von den Zimmern aufgeben, und mit meiner Sophie zusammen ziehen. Wir wurden daher bald über einen billigen Preis einig, fanden zwar Wohnung und Betten ein wenig unreinlich, waren aber doch getrost, auf einen Monath einen wohlfeilen und ruhigen Aufenthalt gefunden zu haben. Ich bath den Franzosen mit uns zu speisen, und nach einer leichten Mahlzeit trennten wir uns denn beym Schlafengehn, und giengen auf unsere Zimmer.

Als ich im Bette lag, war würklich meine Seele ziemlich heiter, und wenn ein Seufzer aufstieg; so schickte ich ihn zurück, woher er gekommen war. Ich machte mir allerley, ach! leider zu schwärmerische Gemälde, von künftiger Glückseligkeit. Voll Zuversicht auf den Vater aller Creaturen, rief ich mit trostvollem Herzen aus: »Er wird des Armen nicht so ganz vergessen, und die Hofnung der Elenden wird nicht verlohren seyn ewiglich.«1[68]

So rollte ich nun damals manchen itzt gescheiterten Plan in meinem Kopfe umher, fand unzählige leichte Mittel für mich und die Meinigen Unterhalt zu gewinnen, und wollte mit diesen süßen Träumen eben einschlafen, als ich plötzlich von einem fürchterlichen Lerm, das aus dem Zimmer unter mir zu kommen schien, erweckt wurde. Es war zuerst ein Zank, und dann ein schreckliches Gepoltere, endlich ein Geschrey um Hülfe. Zugleich wurde mit Gewalt die Hausthür aufgebrochen – Man stürmte die Treppe herauf, ich aber sprang mit ängstlicher Eile von meinem Lager, und eilte zu Sophien – Nun denke Dir mein Entsetzen, als ich erfuhr, was ich Dir itzt erzählen will –

Das Haus, in welches uns der Franzose geführt hatte, war nichts bessers, als ein Bordel, in welchem der Verruchte die Nächte in Wollüsten und bey Hazardspielen zuzubringen pflegte. Sein Plan war gewesen, meine liebe Frau dort zu verhandeln, zu verführen,[69] mir mein bisgen Armuth abzunehmen, und sodann mich, der ich keinen Schutz haben würde, fortzuschaffen, vielleicht gar Werbern zu überliefern. Er sahe wohl, daß dieser teufelische Vorsatz mit einer großen Behutsamkeit müßte getrieben werden, und wollte uns also erst recht sicher machen.

Wie es schien, so hatte die Obrigkeit, aus politischen Absichten, dieses Nest niemals zerstören wollen, so lange keine ausbrechende öffentliche Unruhen daher entstünden.

Diese Nacht nun hatte sich wiederum eine Rotte solcher Bösewichter versammlet, um einen verführten jungen Menschen, den sie in ihr Garn gelockt hatten, bey Wein und unzüchtiger Liebe, im Spiele um Vermögen, Gesundheit und Ruhe zu bringen – Es war Streit entstanden – Die Gemüther waren erhitzt – Man hatte zu den Waffen gegriffen – Der betrogene Jüngling war das Schlachtopfer geworden, de la Saltière hatte[70] ihn tödlich verwundet, war dann entwischt, und da der Lerm indessen Nachbarn und Wache herbeygerufen hatte; so sahen wir uns Alle in Verhaft genommen, ehe ich nur einmal den Zusammenhang dieser schwarzen Begebenheit erfahren konnte –

Man trennte meine liebste Sophie von mir, sie wurde, mit den feilen Dirnen zusammen, auf die verächtlichste Art ins Gefängniß geführt, und ich kam, mit einer höllischen Bande halbbetrunkner Leute, in ein anderes –

Laß mich schweigen von dem, was ich hier acht Tage lang, während welchem die Untersuchung dauerte, empfinden und leiden mußte. Ich will Dir nur sagen, daß ich mit genauer Noth, durch das Zeugniß des Gasthalters, bey dem mein Koffer stand, und die Bekräftigung der ehrlosen Wirthinn selbst, endlich nebst der Freundinn meiner Seele errettet wurde.[71]

Allein was half mir das? Ich durfte meinen Namen nicht nennen, durfte meine wahre Geschichte nicht vor Gericht erzählen, folglich mußte ich eine erdichtete unterschieben, wodurch es denn kam, daß meine Aussagen nicht mit Sophiens Bekenntniß übereinstimmten, und das war genug, um uns, als verdächtigen Personen, die Stadt zu verbiethen – Wir reiseten wehmüthig, beschimpft, und um zehn Ducaten ärmer, die ich für Gerichtsgebühren und Nahrungsmittel hatte bezahlen müssen, mit der Landkutsche weiter.

»Und wohin nun, meine beste Sophie?« rief ich laut klagend aus – »Was mußt Du nicht um meinetwillen leiden! O Gott! ist denn kein guter Mensch mehr auf der Welt, der uns Unglückliche in seine Hütte aufnähme?«

Das liebe Weib war getröster als ich. Sie fiel mir um den Hals: »Sind wir uns nicht genug?« sagte sie »Was bekümmert[72] uns die Welt? Laß uns auf's Land gehen, unter unverdorbenen, glücklichen Bauern ein sorgenloses Leben führen – Diese Hände können arbeiten – Du bist gesund und stark – Es wird alles gut gehn – Wir werden jeden Morgen die Sonne heiter über uns aufsteigen sehen. Niemand wird uns verfolgen, beneiden. Hier ist Unschuld und wahre Freude« – Ich konnte ihr nur mit einem Strom von Thränen antworten – Es wurde festgesetzt, daß wir zehn Meilen von der Stadt in Rechtersdorf uns niederlassen wollten.

Neue Träume der Phantasie wiegten uns ein. Wir fiengen an es als eine Wohlthat zu betrachten, daß ein Unglücksfall uns aus der lastervollen Stadt vertrieben hatte, und unsre Beruhigung stieg zu einer solchen Heiterkeit und Munterkeit empor, daß man uns für die glücklichsten Leute hätte halten sollen. »Gewiß wird noch einst jede Thräne abgewischt werden von unsern Augen. Wodurch[73] hätten wir auch so viel Noth verdient? Sagt nicht Salomo: ich bin jung gewesen und bin alt geworden, aber ich habe noch nie gesehn den Gerechten verderben, noch seinen Saamen nach Brod gehen?«

Hast Du wohl bemerkt, mein lieber Freund! wenn man recht traurig ist, und keine frohe Aussicht das Herz erleichtert, so steigt der Kummer auf den höchsten Gipfel, und dann bricht die Welle auf einmal – Man ist auf einige Zeit völlig ruhig – So grenzen die äussersten Ende der Leidenschaften ganz nahe an einander. Gott, der uns ein gefühlvolles Herz gab, wollte doch nicht, daß dies Herz uns eine Hölle auf Erden bauen sollte. Wenn unser Elend am größten ist; so erheitert auf einmal ein Strahl der Gottheit die finstre Seele – Ist es Hofnung, ist es das Bewußtseyn, daß wir nicht für diese Welt geschaffen sind, oder ist es blos eine physicalische Würkung, daß unsre feinen Nerven die höchste Anspannung nicht lange[74] aushalten können? – Genug! diese Bemerkung muß jeder gemacht haben, dessen Herz je tödlich krank gewesen ist.

Uns erweckte indessen das Ideal unsres künftigen ländlichen Aufenthalts zur Freude, und so fuhren wir sorgenlos, den ganzen Tag lang, mit der Post fort – Die Gegenden kamen uns so schön vor. O! wenn man fröhlig ist; so lächelt uns alles an, aber um den Elenden trauert die ganze Natur –

Nur zu kurz war diese ruhige Periode! Unser Postwagen wurde noch in derselben Nacht, im Walde von Räubern angefallen – Es waren zwölf bewafnete Kerl, Unserer waren, nebst dem Postillon nur fünf, und darunter nur drey Männer – Sie droheten uns zu tödten sobald wir Lerm machen würden, brachen alle Koffer und Kasten auf, nahmen uns Uhren, und kurz alles weg – Mein bisgen Geld, etwas in Silbermünze abgerechnet, hatte ich in das Unterfutter genäht,[75] und daher gerettet – So mußten wir ihnen denn ruhig zusehen, und sie mit ihrer Beute fortgehen lassen.

Nun war freylich unser Jammer wieder auf's höchste gestiegen. Bey dem benachbarten Gerichte eine kostbare Untersuchung zu veranstalten, schien uns gefährlich – Wir waren froh das Leben, die wenigen Kleidungsstücke, welche wir an uns hatten, und sechzehn Ducaten gerettet zu haben – Dennoch muß ich hier wieder bekennen, daß der Muth meiner ewig theuren Sophie den meinigen bey weitem übertraf, mich in wenig Stunden gänzlich über das Verlohrne tröstete, und mich mit neuer Heiterkeit erfüllte. Wir beschlossen nun den kleinen Rest der Reise zu Fuß zu machen, und kamen gegen Abend in Rechtersdorf an.

Von unserer Aufnahme dort hatten wir alle Ursache zufrieden zu seyn. Die guten Landleute schienen würklich bey der Erzählung[76] unsers eben erlittenen Schicksals äusserst bewegt – Wir fanden bey dem Schulmeister eine kleine Wohnung, im Dorfe viel herzlich gute Menschen, und würden gern dort geblieben seyn, wenn alle übrigen Umstände uns eine vortheilhafte Lage hätten versprechen können. Aber uns war es um Lebensunterhalt zu thun. Unser kleiner Fond würde bald aufgezehrt worden seyn, und was würden wir dann gehabt haben? Nun folgten uns aber die Wiederwärtigkeiten, die uns auf jedem Schritte nacheilten, auch hier, und so zufrieden und ruhig wir auch übrigens hier würden gelebt haben; so zeigte sich doch nicht die geringste Aussicht etwas zu erwerben, weder durch Unterricht in Musik, durch Schreiberey, noch sonst.

Es wohnt dort eine adeliche Familie auf ihrem Gute. Die Frau vom Hause ist überall, und das mit Recht, wegen ihrer Leutseeligkeit und edlen Menschenfreundlichkeit beliebt. Sie läßt keinen Armen, keinen Nothleidenden[77] ungetröstet oder unerquickt von sich. Sie lebt wie eine Freundinn unter ihren Kindern, die ihr an Redlichkeit gleichen. Der Herr ist ein würdiger alter Officier, von deutschem treuem Character. Gastfreyheit und Aufrichtigkeit scheinen da zu Hause zu seyn; Aber eben diese schönen Eigenschaften machen, daß sie immer mit Domestiken aller Art und mit andern Leuten überladen sind, welche auf ihre Freygebigkeit Anspruch machen. Diese Anzahl noch durch uns zu vermehren, schien mir zu unedel, und ausserdem war doch in dem Dorfe nichts zu thun, denn zu gemeiner Landarbeit, so gern wir dies Mittel ergriffen hätten, würde uns niemand angenommen haben – Schon unsere Stadtkleidung, so gering sie war, machte da einen Anstoß.

Dazu kam ein Umstand, der mich in Bestürzung setzte. Einer von denen jungen Herrn ist in holländischen Diensten. Er kam eben damals mit einem andern Officier dorthin, und als er uns zum erstenmal begegnete,[78] schienen wir Alle gleich betroffen, denn wir hatten uns schon irgendwo gesehen. Diese Begebenheit aber machte den Entschluß bey uns fest, augenblicklich weiter zu reisen, und nach vielfältiger Erkundigung schien uns Waldorf, von woher ich Dir itzt schreibe, bequemer zu Ausführung eines Plans für unser künftiges Leben.

Um aber hier besser fortzukommen, hielten wir es für nöthig, in einer noch weniger glänzenden Gestalt zu erscheinen. Also verwechselten wir unsre Kleider mit ganz schlechten, die wir einem Handwerksmanne abkauften, und giengen in der Stille von Rechtersdorf weg.

Unterwegens stiessen wir in einem Walde auf eine Bande von Zigeunern, welcher Umstand meiner guten Sophie, beym ersten Anblicke, eine große Furcht einjagte, weil man gewöhnt ist, sich immer bey diesen Leuten eine Rotte von Spitzbuben zu denken. Sie[79] saßen um ein Feuer herum, bey welchem Töpfe standen, in denen sie Igel und Hunde, mit allerley Wurzeln, Kartoffeln u.d. gl. die man ihnen geschenkt hatte, kochten.

Diese Leute sind gewiß sehr merkwürdig, wegen ihrer Anhänglichkeit an die alten Sitten der herumziehenden Stämme. Sie haben Pferde, Esell, zuweilen auch Zelte bey sich, wandern so Heerdenweise umher, und wo sie geduldet werden stehlen sie nie. Diese Gesellschaft bestand etwa aus vierzehn Personen, deren Einige sich ausgezogen hatten, und ihre Kleider in einem Bache wuschen, so rauh auch den Tag das Wetter war.

Wenn man bedenkt, wie wenig Bedürfnisse, und also wie wenig Leidenschaften sie zu befriedigen haben; wie mäßig ihre Nahrung, überhaupt wie nahe angrenzend ihre Lebensart an den natürlichen Zustand des Menschen ist; so sollte mancher, dem, durch die bürgerlichen Verhältnisse, durch Zwang[80] und Interesse, das Glück seines Herzens gestört wird, diese sorgenfreyen Leute beneiden.

Sobald ihnen Kinder gebohren werden, lassen sie solche gewöhnlich in dem nächsten Dorfe taufen. Viele von ihnen nehmen Kriegsdienste, kehren aber mehrentheils noch in ihren besten Jahren zu der ersten müßigen, ungezwängten Lebensart zurück. Es herrscht eine patriarchalische Verfassung unter ihnen. Sie sind zum Theil wohl gebildet, aber die Haut reiben sie sich mit Jagdfett, und lassen dies durch die Sonne oder das Feuer einbrennen, welches ihnen eine nicht häßliche Nußfarbe giebt. Ihre Zähne sind schneeweiß, und nie haben sie das Geringste von Ausschlag noch Ungeziefer an sich. Dies zu verhindern gehört mit unter ihre Künste, deren sie viel zu besitzen im Rufe stehen. Sie sollen unter andern vermittelst einer Kugel, die sie in das Feuer legen, mitten unter verbrennlichen Sachen ein Feuer anlegen können, dessen Flamme nicht weiter zündet. Sie behaupten,[81] daß ihre Freunde aus Arabien ihnen dergleichen Kugeln schicken, doch will ich wohl glauben, daß dies, so wie ihre Wahrsagerkunst, nur Blendwerk ist, womit sie hie und da Geld erbetteln.

Wären wir in einem ruhigern Gemüthszustande gewesen; so hätte ich mich gewiß länger bey diesen sonderbaren Menschen aufgehalten, und würde mich bemüht haben, vorzüglich ihre Sprache zu studieren, die mit der deutschen nicht die mindeste Aehnlichkeit hat. So aber trennten wir uns bald, und gaben ihnen ein kleines Reisegeld, wogegen sie uns, ohngebethen, Reichthum und Glück prophezeyeten – In der Verfassung, darinn wir leider! waren, fängt man gar zu gern jeden Hofnungsstrahl auf, und wir fanden uns so geneigt in ihre Kunst kein Mistrauen zu setzen, daß ich mich nicht schäme zu gestehen, daß wir durch ihre Vorhersagungen, mit neuer Zuversicht gestärkt, weiter giengen. Es war zwey Uhr Nachmittags als wir hier ankamen.[82]

Man sollte nicht glauben, wie groß der Einfluß ist, den ein redlicher Landedelmann und ein guter Prediger auf die Sitten ihrer Unterthanen, durch edles Beyspiel, haben können, wie viel auch von der Seite dieser Stand zum wahrhaften Glück eines Landes beytragen kann. In Rechtersdorf herrscht die edelste Einfalt der Sitten, hier hingegen die ausgelassenste, zügelloseste Lebensart. Zwar macht die Regierungsform auch viel Unterschied. Walldorf steht unter ... scher Hoheit. Alles muß die Musquette tragen, was nicht lahm ist, und die Soldaten bringen, wenn sie auf Urlaub gehen, die Corruption aus der Residenz mit hierher. Aber größtentheils fehlt es auch an einer guten Anführung. Der hiesige Prediger ist allgemein als ein heuchlerischer, schlechter Mann bekannt, und wenn gleich er des Sonntags von der christlichen Liebe predigt, und durch hundert Faustschläge auf die Kanzel Eindruck auf das Herz der Zuhörer machen will; so ist doch niemand unbarmherziger, intoleranter[83] und rachgieriger als er. Er kreischt gegen Unmäßigkeit, und ist selten nüchtern, dabey soll er so scheinheilig, so eifrig für die Gottesfurcht thun können, daß er denjenigen unaufhörlich chicanirt, der nicht oft seine elenden Predigten gern hört, er müßte denn dafür bezahlt werden, durch die Finger zu sehen.

Du kannst leicht denken, mein Theuerster! daß wir, bey diesen Umständen, noch immer für unser künftiges Schicksal zittern. Zwar ist hier eine große Pachtung, auf welcher ein ziemlich guter Mann wohnt, der uns eine reinliche Wohnung eingeräumt, und versprochen hat (weil wir uns für Leute ausgaben, denen Haus und Hof abgebrannt sey) uns allerley Art Arbeit, sowohl im Haushalte, als für das benachbarte Städtgen zu verschaffen – Wir werden sehen, wie er sein Wort hält – Ich täusche mich so gern, wenn ich nur irgend etwas vor mir sehe – Ach! wenn ich denn so meine kranke Seele[84] mit einem Plane einschläfern kann; so bin ich so lange glücklich, bis irgend das Schicksal einen Prügel dazwischen wirft, und dann bebt jede Nerve an mir – Gott wird sich ja aber unserer endlich wieder annehmen – Das fühle ich wohl, daß ich Demüthigung verdient habe, und alles, was man mir darüber vorpredigen könnte, empfinde ich lebhaft genug – Die Moral ist eine schöne Sache, ein weites Hemd; Es paßt über jeden Leib, aber es wärmt nicht – Der Schritt ist doch nun einmal geschehen, und an der Seite meiner Sophie leide ich auch alles ohne Murren, wenn nur sie nicht mit leiden müßte.

Ich merke täglich mehr, daß die unempfindlichen Leute die glücklichsten sind. Mit einem warmen Herzen bauet man in dieser Welt sein Elend. Da giebt es Menschen die, aus Unverstand oder Muthwillen, recht darauf ausgehen, jede Blase zu zertrümmern, die unsre geschäftige Phantasie, mit den schönsten Farben, wenn gleich nur aus Seife,[85] geformt hatte, und doch können diese Luftgebäude allein uns dies Leben erträglich machen, denn auf dauerhafte Freuden hier zu rechnen, wäre Thorheit – Man sucht sich dann zuweilen ein Fleckgen, einen Stein zum Kopfküssen – Man schläfert sich, so gut man kann, ein – Nun täuscht uns ein angenehmer Traum – Der neben uns liegt, sieht unsre freudigen Blicke, unser sanftes Lächeln, weil er aber nicht schlummern kann oder will, nicht weiß, nicht wissen will, welch ein Glück träumen ist; so stößt er uns ungroßmüthig in die Seite. Wir fahren auf, fühlen nun doppelt, wie hart wir gelegen haben –

Alles hier auf Erden sieht herrlicher von Weitem aus, als in der Nähe. Ich hatte mir einen so hohen Begriff von der Glückseligkeit des Landmanns gemacht – Jetzt sehe ich Scenen, an welche man im Wohlleben gar nicht denkt – Ein armer Bauer hat oft mit seiner zahlreichen Familie eine Woche lang nichts warmes zu geniessen. Wasser ist[86] ihr Trank; Brod, wenn sie es haben, ihre Speise. Das bisgen Geld, das sie Alle mit saurem Schweisse verdient haben, holt der Gerichtsdiener, auf Abschlag der nie zu tilgenden Schuld, um es in die große Casse zu liefern, aus welcher Müßiggänger, Betrüger und Huren besoldet werden. Hat der Bauer kein Geld; so muß er den Rock vom Leibe geben – Seine Betten liegen auf dem platten Boden, und sind mit dürrem Laube gefüllt. Wenn ihm ein Kind gebohren wird, muß das nöthigste Stück des Hausraths für die Hälfte des Werths an den Juden verkauft werden, um dem unerbittlichen Prediger die Taufe zu bezahlen – Laß mich schweigen, das Herz blutet bey solchem Anblicke – Kommt aber heran, Fürstenkinder! und schauet – das sind die Trauerspiele, die Ihr ansehen solltet –

Und so ist aller Orten Elend und Unglück reichlich gesäet, und nur der Schurke wälzt sich in sorgenlosen Freuden umher –[87]

Es giebt ein Land, wo man mit einer redlichen, freyen Denkungsart, mit einem weichen Herzen sein Glück macht; wo die Fürsten Menschen, und gute Menschen sind; wo wahrer Fleiß und wo Verdienste geschätzt werden; wo wir gleich zärtliche Freunde haben, wir mögen glücklich oder unglücklich seyn; wo die Liebe nicht unser Elend bauet; wo Reichthum keinen Unterschied unter den Menschen macht; wo man, mitten in den Zerstreuungen und dem Geräusche der Welt nicht vergißt, daß um uns her so mancher bekümmerter Redliche bittre Thränen weint; wo eigenes Gefühl von menschlicher Schwäche uns nachsichtig gegen die Fehler unserer Brüder macht; wo der falschen tückischen Ernsthaftigkeit die Larve abgerissen wird; wo Vorurtheil nicht Grundsatz, Aberglaube nicht Frömmigkeit heißt; wo die heilige Religion uns zu Erfüllung unsrer Pflichten führt, und uns Toleranz lehrt – In diesem Lande mögte ich wohnen – Es giebt ein solches Land – Meine Amme hat mir's oft erzählt –[88] Es ist das Schlaraffen-Land – Ehe ich es nicht finde, wird mein Unstern wohl aller Orten über meinem Haupte schweben –

Ach! verzeyhe, liebster, kostbarer Freund! Verzeyhe den innigst traurigen Ton, in welchem ich Dir schreibe – Wie kann ich aber anders? – Dieser Brief trägt das Gepräge eines geängsteten für die Zukunft zitternden Herzens – Entschuldige mich, und weihe mir zuweilen eine Thräne – Bald sollst Du mehr hören, von


Deinem

ewig treuen

Gustav von der Hörde.

Fußnoten

1 Psalm 9, Vers 19.


Quelle:
Knigge, Adolph Freiherr von: Der Roman meines Lebens, in Briefen herausgegeben. 4 Teile, Teil 2, Riga 1781–1783, S. 90.
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