Der 2. Absatz.

Von den Lilien, oder Ilgen.

[658] Schön ist es zu sehen / wie die Lilien / oder Ilgen als ein sondere Garten-Zierd in ihrem weissen Silber Gewand so prächtig / und aufrecht da stehen / und weit über die mehreste andere Blumen aussehen.20 Sie wachsen wie bekant auf einem starcken und hohen Stengel / der rings um mit langen schmalen Blätteren besetzt ist / deren die untere grösser / als die obere seynd. Zu oberst des Stengels wachsen etliche schöne Schneeweisse Blümlein / welche nicht zugleich / sondern nach und nach aufgehen.

Jede Blum hat sechs Blätter: untenher ist sie eng /oben aber breitet sie sich aus / und hat in der Mitte einen gelben Saamen der sieben Körnlein in sich hat /die Blätter seynd fett / oder ölig / und wird ein heilsames Oel daraus gemacht / auch sonders von den Ilgen vilfältig Artzney-Weiß / doch mehrentheils äusserlich gebraucht: die Ilgen wachst von der Zwiebel / und und vermehret sich leicht / ihr Geruch aber ist sehr starck und lieblich.

Die Schönheit und Fürtreflichkeit der Lilien erhellet aus dem / daß uns Christus in dem Evangelio selber solche zu betrachten anweiset / und zwar nur die Lilien auf dem Feld. Considerate Lilia agri,21 mit dem Zusatz / daß der König Salomon in aller seiner Herrlichkeit nicht also zierlich bekleidet seye / als wie diese. Ein grosse Freud und Hochschätzung zeiget GOTT zu den Lilien. In dem er seine geistliche Braut / seine Gerechte / und sich selber mit einer Ilgen vergleicht / wie in unterschidlichen Stellen der heiligen Schrifft zu sehen ist.

Sonsten seynd die Lilien jederzeit für ein Symbolum, und Wahr-Zeichen der Jungfräulichen Reinigkeit / oder Unschuld gehalten worden.22 Massen der Poët singt.


Lilia Virginei sunt Symbola certa pudoris.


Und wiederum ein anderer.


Munditiæ candor per Lilia pura notatur.


Uns die Jungfräulich Reinigkeit /

Der weissen Ilgen Glantz anzeigt.


Deßgleichen der heilige Abrosius sagt: Lilien Christi seynd absoderlich die GOtt geweyhte Jungfrauen: dero Jungfrauschafft gläntzend und unbefleckt ist /diese seynd von welchen der himmlische Bräutigam sagt / sicut linium inter spinas, sic amica mea inter filias:23 Wie ein Ilgen unter den Dörnern / also ist mein Freundin unter den Töchteren.

Ein jede volkommene Ilgen ist mit 6. schönen Blättern versehen / und ein jede Jungfrau solle mit 6. sonderheitlichen Tugenden zu ihrer Beschützung / und Verwahrung versehen seyn / nemlich mit der Samhafftigkeit in den Augen / in den Reden / und Gebärden: 2. Mit der Mäßigkeit in dem Essen / und Trincken / 3. Mit der Ehrbarkeit in den Kleideren: 4. Mit Innhaltung des Fürwitzes / und vilen Auslauflens / 5. Mit der Emsigkeit in einer nutzlichen Beschäfftigung /oder Arbeit.24 6. Mit Behutsamkeit oder Meidung der Gefahren. So wenig die Lilien ohne Blätter bestehet /so wenig kan die Jungfrauschafft bestehen / oder dauren ohne Gesellschafft dieser Tugenden.[658]

Die Lilien auch der Saamen / so man darab trinckt /wie Plinius, und Dioscorides bezeugen: ist ein gutes Mittel wider das Gifft / und Schlangen-Biß: mit Eßig gebeitzt / heilen sie die Wunden etc.

Auf gleichen Schlag ist auch die Jungfräuliche Reinigkeit / ein kräfftiges Mittel wider das Gifft der fleischlichen Sünden / und wider die Biß / oder Versuchungen der höllischen Schlang etc.

Die Ilgen ist sehr fruchtbar / ihr Wurtzel oder Zwiebel bestehet aus vilen Knöpfen / deren ein jeder die Krafft hat neue Lilien vorzubringen. Auch die Jungfrauschafft hat ein grosse sittliche Fruchtbarkeit /sie bringt vil andere Tugenden / und gute Werck herfür.

Absonderlich ist die unvergleichliche / und allzeit unbefleckte Reinigkeit Mariæ einer Wunder-schönen Schneeweissen Ilgen gleich / welche durch den Glantz ihrer Reinigkeit / und durch die Lieblichkeit ihres Geruchs GOtt selbsten von Himmel an sich gezogen hat.25 Sie ist vor allen andere Jungfrauen eine Lilien zu nennen und zwar eine Lilien unter den Dörneren /weil sie gebenedeyt ist unter den Weiberen: Sie ist allzeit gerad und aufrecht gestanden als wie die Lilien / allzeit Schnee-weiß / das ist / gantz rein und unbefleckt gewesen.

Die allzeit unversehrte Jungfrauschafft Mariæ / hat GOtt unter anderen mit folgendem Mirackel bekräfftiget: als der Heil. Ægidius einer aus den ersten Gesellen S. Franc. Seraph. florirte / und berühmt war / da begab es sich / daß ein GOtts-Gelehrter des heiligen Prediger-Ordens / mit zweyfelhafftigen Gedancken angefochten wurde / ob die Mutter GOttes allzeit ein unversehrte Jungfrau blieben sey: dieser entschlosse sich bey Ægidio Raths zu pflegen / und seinem wanckelmüthigen Sinn / und Hertzen die erwünschte Ruhe zu schaffen.26

So bald ihn aber Ægidius nur von weiten ersehen hat / da hat er gleich seine Gedancken erkennt / ist ihm entgegen gangen / hat mit seinem Stecken 3. mahl auf die Erden geschlagen / und zugleich gesprochen: Frater Prediger / die Mutter GOttes Maria ist ein Jungfrau vor der Gebuth / sie ist ein Jungfrau in der Geburth; sie ist ein Jungfrau gewesen nach der Geburth: und zu jeden Streich / und Spruch ist allzeit Augenblicklich ein überaus schöne Ilgen aus der Erden entsprungen.

Aber es gibt auch in statu oder sensu politico gar schöne Lilien / welche in dem Garten einer Communität / oder eines gemeinen Wesens scheinbar / und ansehnlich da stehen.27 Solche politische Lilien sollen alle regierende Herren und Obrigkeiten seyn: dann gleich wie die Ilgen zwar unter den anderen kleinen Blumen als wie ein Rieß da stehet / und weit über sie aussihet / so ist sie doch nicht hochmüthig / sie verachtet die kleinere und schlechtere Blumen nicht /sondern neigt gantz gnädig ihr florirendes / und gecröntes Haupt gegen ihnen: also solle auch ein regierender Herr / oder Obrigkeit / obwohlen er in Würde /in dem Gewalt und Ansehen / weit über seine Untergebene erhoben ist / dannoch sie nicht verachten /sondern sich gegen ihnen gnädig und geneigt erzeigen.

Die Lilien thun sich gegen dem Himmel auf / und præsentiren sich demselben wie ein silbernes Geschirr / das Himmels-Thau / und heilsamen Regen zu empfangen: aber wann sie selben empfangen haben /behalten sie selben nicht für sich selbst allein / sondern lassen ihn abfliessen auf die kleinere niedere Gewächs / denen sie getreulich darvon mittheilen. Auf diesen Schlag sollen auch die Obere die von GOtt empfangene Talenten Kräfften / und Güter nicht für sich allein behalten / sondern auch die Unterthanen selbe geniessen lassen: sie sollen es nicht machen /als wie die Perlein-Muschel / welche auch das Himmels-Thau begierig empfangt / und einnimmet / aber sich also bald vest wiederum zuschließt / ihren Schlatz verbierget / und niemand etwas darvon freywillig[659] geniessen laßt. Ein jede Ilgen ist mit 6. Blätteren versehen / und ein jeder Oberer soll mit einer 6. fachen Wohlthätigkeit Sorgfalt / und Freygebigkeit gegen seine Untergebene versehen seyn / auf daß er mit Wahrheit sagen könne / vestio, poto, cibo, recolligo, visito, condo: das ist / ich kleide / ich speise /und träncke / ich nimme auf / besuche / und versorge die Meinige.

Ja wann man die Lilienrecht betrachtet / da wird man sehen / daß ihre Blätter gestaltet seyen / als wie die Zungen / die gantze Blum aber die Gestalt habe einer silbernen Glocken / in der Mitten stehen etliche Gold-gelbe Schwenckel oder Kengel / die schlagen immer zu an der Glocken an / als wolten sie über laut ruffen: kommt her ihr Blumen / und Kräuter / die unter uns stehen / auf daß ihr unseren Schutz geniessen / und unserer Güther möget theilhafftig werden /wir bieten euch / die nahe und weit entfernet seynd /unsere Gnad / und geneigten Willen an etc. Ja dieses ist ein recht Fürstlich- und Königliche Tugend: also sollen grosse und regierende Herren / die GOtt vor andern mit herlichen Qualitäten versehen / und mit grossen Gütteren so reichlich begabet hat / beschaffen / ihren Unterthanen mit Gnad gewogen seyn / und nicht nur ihre Favoriten / die nach / und beständig um sie und gemeiniglich ohnedem schon reich genug seynd / sich günstig und freygebig erweisen / sondern auch denjenigen / welche weit entfernet / sich nicht näheren / oder aus Respect ihr Noth / und Bedürfftigkeit nicht selbst vortragen / und etwas begehren dörffen. Zu solcher Mildthätigkeit sollen sie bewegt werden durch das preißwürdigste Exempel des höchsten Königs des Himmels / Christi des HErrn / welcher in dem Evangelio gesprochen / und ausgeruffen hat: Venite ad me omnes, qui laboratis, & onerati estis, & ego reficiam vos: Kommet her zu mir alle die ihr arbeitet / und beladen seyd / und ich will euch erqücken.

Quelle:
Kobolt, Willibald: Die Groß- und Kleine Welt, Natürlich-Sittlich- und Politischer Weiß zum Lust und Nutzen vorgestellt [...]. Augsburg 1738, S. 658-660.
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