Die rote Rune

[223] Bleede Bluthand sprang von des Schiffes Rand,

Seine Mannschaft hinter ihm drein,

Und er sah nach dem grünen Marschenland,

Und er wog das Schwert in der schwieligen Hand,

Und begann ein Lied, und wer bei ihm stand,

Der fiel voll Freuden ein:


»O du Rune rot, o du Rune fein,

O du Rune so rot wie das Blut,

Rote Runen werden am Himmel sein,

Rote Runen trocknen am Schwerte mein,

Rote Runen schenk' ich dem Mägdelein,

Daß es weiß, wie das Lieben tut!«
[223]

Der Tage siebene gingen vorbei,

Sieben Dörfer standen in Brand;

Und die Luft war voll von Rabengeschrei,

Und der Wolf vergaß, was Heißhunger sei;

Denn die Wikinger sangen die Blutlitanei,

Die Kreuz und die Quere im Land.


Es kam die Nacht auf den siebenten Tag,

Bleede Bluthand lag und schlief,

Ein rosiges Mädchen im Arme ihm lag,

Ihr Vater starb durch des Schwertes Schlag,

Ihrer Mutter Herz vor Entsetzen brach;

Bleede Bluthand schlief ruhig und tief.


Und es schlich herbei und es kroch heran,

Das nackende Messer im Mund;

Und es würgte die Schildwachen Mann für Mann,

Und der Meerwölfe Herzblut im Sande zerrann,

Unehrlichen Strohtod jedweder gewann,

Der da schnarchte im grasigen Grund.


Bleede Bluthand schlief und atmete schwer,

Denn ein Nachtmahr brachte ihm Not;

Das Schiff gehorchte dem Steuer nicht mehr,

Tote Männer schwammen neben ihm her,

Und die Wellen, die gingen die Kreuz und die Quer,

Und vom Ufer her lachte der Tod.


Bleede Bluthand stand vor dem großen Stein,

Und die Bauern hielten Gericht;

Und das bei ihm geschlafen das Mägdelein,

Das stieß ihm den Dolch in die Augen hinein,

Nahm das Sonnenlicht ihm und den Mondenschein,

Und spuckte ihm in das Gesicht.


Und sie banden ihn in sein Drachenboot

Und stießen's hinaus in die Flut;

Und sie sangen das Lied von der Rune rot,

Von der Blutrune Lust, von der Blutrune Not,

Drei Runen sie gaben ihm mit in den Tod,

Drei Runen, so rot wie das Blut:
[224]

»O du Rune rot, o du Rune schön,

O du Rune, so rot wie das Blut,

Rote Rune soll der Wind dir wehn,

Rote Rune soll dein Auge sehn,

Rote Rune sei dein Sterbegestöhn,

Daß du weißt, wie das Lieben tut.«

Quelle:
Hermann Löns: Sämtliche Werke, Band 1, Leipzig 1924, S. 223-225.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Mein blaues Buch
Mein blaues Buch. Balladen
Mein blaues Buch: balladen (German Edition)

Buchempfehlung

Musset, Alfred de

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon