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Auf die Musik zu Erwin und Elmire,

[192] von Ihrer Durchlaucht, der verwittibten Herzogin zu Weimar und Eisenach gesezt


Wenn Sterblichen vergönnet wäre

Zu seyn wozu der Dichter sie

Mit Gotterhitzter Phantasie

Erschafft der Welt und sich zur Ehre;

Und in des Waldgebirges Thal

Versenkte sich in schwarzvertrauten Schatten,

Um seiner Quaalen Wuth durch Duldung abzumatten,

Ein heutiger Erwin zum zweytenmal,

Und hofft' umsonst im dichtrischen Reviere

Den Tag, die Nacht, den andern Tag,

Den dritten Tag, und Tag um Tag,[192]

Auf seine würkliche Elmire:

Dem Armen, welchen Rath könnt ihm ein Menschenfreund,

Könnt' ihm der Dichter selbst mit nassen Augen geben?

Vertraur', Unglücklicher! dein hassenswürdig Leben,

Und trägst du's länger nicht, so tödte deinen Feind!


Ich aber wüste was ich riethe,

Ich dem der Halbgott Aeskulap,

Trotz Antiochus Arzt1, geheime Mittel gab,

Und die ich auch nicht jedem Kranken biete:

Ich sezte meinem lieben Schwärmer

Ein klein Spinetchen in sein Thal,

Und spielt' ihm auf dem kleinen Lärmer

Der Herzogin Musik einmal;

Und wenn dann mein Erwin aus seinen lezten Zügen

Nicht aufspräng' als ein junges Reh,

Und sie allebend kommen säh

Vom Berg herab ihm in die Arme fliegen,

Und schwüre nicht, daß sie alliebend vor ihm steh

Und er für Wohl an ihrer Brust vergeh;

So wollt' ich unter seinem Weh

Mit ihm ersinken und erliegen!


Ja ja, Durchlauchtigste, Du zauberst uns Elmiren

In jede wilde Wüsteney;

Und kann der Dichter uns in seelger Raserey

Bis an des Todes Schwelle führen:

So führst Du uns von da noch seeliger und lieber

Bis nach Elysium hinüber.

1

Antiochius Sohn des König Seleukus in Syrien verliebte sich in seine Stiefmutter und ward krank darüber. Der Arzt brachte endlich das Geheimniß von ihm durch Musik heraus, womit er ihn auch heilte.

Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Gedichte, Berlin 1891, S. 192-193.
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