Liebesgedanken

[128] Je höher die Glocke,

Je heller der Klang:

Je ferner das Mädchen,

Je lieber der Gang.


Der Frühling will kommen,

O Frühling, meine Freud'!

Nun mach' ich meine Schuhe

Zum Wandern bereit.


Wohlauf durch die Wälder,

Wo die Nachtigall singt!

Wohlauf durch die Berge,

Wo 's Gemsböcklein springt!


Zwei schneeweiße Täubchen,

Die fliegen voraus,

Und setzen sich schnäbelnd

Auf der Hirtin ihr Haus.


Ei bist du schon munter,

Und bist schon so blank?

Gott grüß' dich, schön's Dirnel!

Ach, der Winter war lang!


Zwei Augen wie Kirschkern',

Die Zähne schneeweiß,

Die Wangen wie Röslein

Betracht' ich mit Fleiß.


Ein Mieder von Scharlach,

Ganz funkelnagelneu,

Und unter dem Mieder

Ein Herzlein so treu!


Und ihr Lippen, ihr Lippen,

Wie preis' ich denn euch?

So wie ich will sprechen,

So küßt ihr mich gleich!
[129]

Ei Winter, ei Winter,

Bist immer noch hier?

So darf ich doch wandern

In Gedanken zu ihr.


Auf Siebenmeilenstiefeln

Geht's flink von der Stell',

Auf Liebesgedanken

Geht's siebenmal so schnell.


Quelle:
Wilhelm Müller: Gedichte. Berlin 1906, S. 128-130.
Lizenz:
Kategorien: