Morgenlied im Mai

[321] Wie tönt um mich so süßer Schall!

Schon weckt die frühe Nachtigall

Den kühlen Maienmorgen;

Und froh begrüßt vom Vögelchor,

Steigt groß und hell die Sonn' empor,

Die kurz ihr Licht verborgen.


Die Lerch' erwacht auf frischer Au',

Und schüttelt sich den Perlentau

Vom bräunlichen Gefieder;[321]

Sie schwebt und glänzet, kaum gesehn,

Und trillert aus besonnten Höhn

Ihr Morgenlied hernieder.


Wohlauf, o neubelebtes Herz,

Der Sängerin dich himmelwärts

Mit Jubel nachzuschwingen!

Wohlauf, dem Herrn, der weit und breit

Alliebend Lust und Leben streut,

Dein Morgenlied zu singen!


Ja, dich, du Segensquell, erhebt,

Was nur ein halbes Leben lebt;

Und freut sich deiner Güte.

Dir zollt das niedre Veilchen Duft;

Dich preist, gesät in blaue Luft,

Des Apfelbaumes Blüte.


Der kleine Fisch im klaren See,

Der rege Wurm auf buntem Klee,

Dankt freudig dir sein Leben.

Dir dankt der laute Bienenschwarm,

Dir Schmetterlinge, frei von Harm,

Die ihrer Hüll' entschweben.


Und hell aus tausend Kehlen schallt

Der Vögel Lied vom Birkenwald

Zu deines Thrones Stufen.

Durch deine Hand gesättigt, ruht

Im hohen Nest des Raben Brut,

Die früh dich angerufen.


Das Wild im grünen Dickicht preist

Dich, der's in dunkler Nacht gespeist,

Und legt aufs Moos sich nieder.

Froh kehret Roß und Rind und Schaf,

Froh kehrt der Mensch, erquickt vom Schlaf,

Zu Weid' und Arbeit wieder.[322]


Auch ich, o Schöpfer, jauchz' empor

In deiner Schöpfung großem Chor,

Mit Kraft zum Werk erquicket;

Da rings mein Auge, hell und frisch,

Ins tausendfache Lustgemisch

Belebter Wesen blicket!


O Gott, wie du, von Lieb' erfüllt,

Laß immer mich, dein Ebenbild,

Durchs Erdenleben wallen;

Und wann dies Leben einst verblüht,

Vollkommner dir mein Jubellied

Im Himmelschor erschallen!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.], S. 321-323.
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