Goethe und die Dichtung

[14] Reinem Meister ahmt' ich nach,

Ob es auch der größte wäre;

Seinen Lauf hat jeder Bach,

Jeder Strom hat seine Sphäre;

Aber einen muß ich nennen,

Ihn als Leitstern anerkennen!


Goethe! Wie auf eigner Bahn

Ich durchs Meer mich umgetrieben,

Immer ist als Tramontan'

Er im Auge mir geblieben;

Und wenn er soll untergehn,

Wird er mir im Herzen stehn.


Daß nicht alt und junge Neider

(Himmel, dies Gezücht veredle!)[14]

Mich verschrein als Hungerleider,

Der um einen Brocken wedle;

Lob' ich einen toten Mann,

Der mir keinen geben kann.


Stand ich je in seinem Schutz?

Hat er mich gelobt, genannt?

Mich gehoben, anerkannt?

Lob' ich ihn aus Eigennutz?

Dennoch ja! ich weiß und sehe,

Daß ich mit ihm fall' und stehe.


Wird je der Beruf des Schönen

Buße predigen statt schildern

Und zerreißen statt versöhnen

Und verwildern statt zu mildern,

Statt zu singen dumpf zu winseln,

Statt zu malen grell zu pinseln;


Siegt das Abenteuerliche

Über das Gebührliche

Und das Ungeheuerliche

Über das Natürliche:

Dann wird Goethe nicht mehr sein,

Und wir andern gehn mit drein.


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 2, Leipzig und Wien [1897], S. 14-15.
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