5. Herbstlied

[326] Was sagt der Herbst der Ros' ins Ohr.

Daß sie die Munterkeit verlor?

Er mahnt sie an die Nichtigkeit

Der Treue, die der Lenz ihr schwor.

Sie reißt entzwei den Schleier, den

Sie nahm, als er zur Braut sie kor;

Und wie sie bleich vom Throne sinkt,

Erseufzt der Nachtigallen Chor.

Wer brach entzwei das Lilienschwert?

So blank geschliffen war's zuvor.

Die Tulp' entfloh so eilig, daß

Den Turban sie am Weg verlor.

Beschämt senkt der Iasmin sein Haupt,

Weil ihm der Ost die Locken schor.

Es streut der Wind mit voller Hand

Von Bäumen Blättergold empor.

Das dürre Laub schwirrt durch die Luft,

Wie Fledermäus' aus Gräberthor.

Das Totenlied der Schöpfung spielt

Der Herbstwind auf geknicktem Rohr.

Die finstre Tanne trägt den Schnee

Wie weißen Bund ums Haupt ein Mohr.

Der Berg nahm weißen Hermelin,

Weil ihm die nackte Schulter fror.

O sieh des Jahrs Verwüstung an

Und hole frischen Wein hervor!

Die Sonne sandt' uns, eh' sie wich,

Den jungen Most ins Haus zuvor,[326]

Daß er uns leucht' an ihrer Statt,

Wann ihre Kraft dämpft Wolkenflor.

Sieh, wie des Wintergreises Grimm

Des Frühlingskindes Hauch beschwor.

Er weckt im Bechertönen ein

Verzaubert Nachtigallenchor;

Und trunkne Blicke sich ergehn

Auf schöner Wangen Rosenflor.

Du trink', und seufz' im Winter nicht;

Denn auch im Frühling seufzt ein Thor.


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 326-327.
Lizenz:
Kategorien: