6. Das ist dein Amt

[327] Leucht', o flammendes Sonnenaug', über die Welt; das ist dein Amt.

Lenz! mit blühendem Rosentraum schmücke das Feld; das ist dein Amt.

Mond am Himmel! o schlafe nicht! denn hier auf Erden wollen sein

Liebesnächte von deinem Strahl lieblich erhellt; das ist dein Amt.

Sing', o liebende Nachtigall, was du von Rosen-Schönheit weißt,

Sing' und stirb im Gesang, zu Sang bist du bestellt; das ist dein Amt.

Thräne meines verlassnen Augs! für ein geliebtes Bild, das hier

Soll einkehren, mit duft'gem Flor schmücke das Zelt; das ist dein Amt.

Bild der Schönheit! mit Himmelsglanz allen in Nacht Versunkenen

Vorzuleuchten, dazu hat uns Gott dich gesellt; das ist dein Amt.

Sag' zu deinem verklärten Blick: lege die goldne Rüstung an,

Gründ' auf Erden der Liebe Reich, leuchtender Held! das ist dein Amt.

Zu dem Bogen der Braue sprich: spanne dich stolz, daß Pfeil auf Pfeil

Auf rebellischer Herzen Trotz werde geschnellt; das ist dein Amt.[327]

Daß du flatternde Locke mich Flatternden fingest, dank' ich dir;

Immer neu sei dein reizendes Netz mir gestellt; das ist dein Amt.

O mein tönendes Saitenspiel! weil das Geschick in meine Hand

Dich gegeben, von Liebeshauch Töne-geschwellt; das ist dein Amt.

Lenk', o rüstiger Steuermann, diesen verlornen Nachen durch

Klipp' und Brandung und Wogendrang, bis er zerschellt; das ist dein Amt.

Laß die heuchlerisch dumpfe Welt scheitern an ihrer Eigensucht.

Lieb' aufrichtig und trink, Hafis! schwärm' unverstellt; das ist dein Amt.


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 327-328.
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