Die Gegner

[152] Nun,da wir alle so viel durchgemacht haben, darf da noch einer sein, der Menschentum für eine Phrase hielte?

Nun, da Millionen Zufriedener wissen, wie Hunger ist, darf da noch einer sein, der nicht jedes Mittel zur ewigen Beseitigung des Hungers guthiesse?

Geist ist die Äusserungsform Gottes gegenüber dem Menschen, und die darum eine Gemeinsamkeit für alle Menschen bildet. Geistige sind die Menschen, welche durch diese Gemeinsamkeit vor dem Absoluten sich in einer besonders grossen Verantwortlichkeit gegenüber den anderen Menschen verpflichtet fühlen. (Im Gegensatz zu allen modernen Mystikern, die behaupten, ein Privatabkommen mit Gott zu haben, das sie aller handelnden Verantwortung überhebt.)

Man hat gegen die Geistigen alles unternommen. Man hat uns bekämpft, man hat uns denunziert, man hat uns zu sehr – zu wenig – radikal, demokratisch, sozialistisch genannt. Man hat uns Verräter geheissen, man hat uns ignoriert, man hat uns gelesen, verlacht, aufgenommen, benutzt. Nur nicht verwunden.

Aber wie kläglich sind unsere Gegner. Diese Blumentöpfchen[152] von Denkern! Da ist das unsichere Schäfchen, das alles mitmeckert, den Frieden und den Krieg, Volkstum und Dynastie; das sich nie entscheiden kann trotz des historischen Kotelettebärtchens, das an einen alten tapfer unbedingten süddeutschen Landesgenossen demokratisch erinnern soll. Es rettet sich stets in die List, aus purer Angst, vors Gericht des Geistes geladen zu werden und seine Ausflucht ist, wohlwollend die Geistigen längst dagewesen zu finden. Aber jener ahnt gar nicht, wie dagewesen wir erst ein Jahrhundert später sein werden! -– Heran springt der übliche wilde Kriegsindianer, der dem Staat empfiehlt, uns zu füsilieren. – Aufzug, wankend, des umständlichen Stammlers, der zwecks Empfehlung seiner eigenen, heiser vorsichtigen Postillen, undeutlich Erbittertes gegen uns hustet. – Mit forschem Zinnsoldatenschritt marschiert, einer für sich, der Kulturkonservative, von niemandem als seinem eigenen Entschluss zur politischen Repräsentation beauftragt, trocken, intelligent, und vielleicht nur durch massiv kapitalistische Umgebung bei allzu dicker Naivität geblieben. Er findet es gewöhnlich unerhört, die blosse Konstatierung dessen was ist, zu verlassen. Eine Diskussion, die keine ist, denn unser Ziel ist ja gerade die strömende, zeugende Fruchtbarkeit, gegenüber einer Konstatierung des Seienden – welche uns bloss Nehmen, Wucher und Selbstgenuss bedeutete.

Schiefe Köpfe, gute Herzen, achtbare Leute. Sie sind entrüstet. Und selbst wenn sie uns in der Hitze minutenweise den Tod wünschen, so kann man sich immer noch mit ihnen freundlich hinsetzen und ihnen zeigen, wie fahrlässig sie handeln. Wir wissen den Moment, wo sie zusammenbrechen werden und mit stumpfer Miene einsehen, wie sie persönlich fast verbrecherisch gehandelt hätten. Oder seht unseren Gegner, den Erlebnisphilosophen; er denkt begeistert alles mit, wie es[153] auf ihn zustösst, den Krieg, den Frieden, den Waffenstillstand; und er wird sein Lebenswerk schaffen als eine »Philosophie der Conjunctur«, tief ehrlich, immer von neuem aus der Bahn geworfen. Er hält es für gut, das Gegebene – das jedesmal ihm blindlings ohne sein Zutun Gegebene – zu bejahen, und aus dem einen Moment, der eben herrscht, die ganze Welt zu entdecken. Er hält das Erlebnis nicht für die Lehre des Lebens, nicht für den Weg, den wir durchs Material hindurch zum Unbedingten nehmen müssen, sondern für sein Ziel. Er wäre sogar bereit, uns das Erlebnis zu verschaffen – in der Meinung, wir wüssten nichts davon. Die alte schlechte Voraussicht der Nur-Methoden-Menschen, dem andern das Erlebnis verschaffen zu wollen: sie verwirklicht sich im besten Fall als Intrige! – Und herzu lügen sich die letzten Widersacher; der unschöpferische Schreiber, der Phantasielose, der Talentarme; das grobe ungefüge Handgelenk; der ungeistig Geistgelähmte. Der literarische Couleurfriseur im Renommier-Schmiss-Stil. Der gebildete Reisebrief-Lakai der Zeitungen. Gasmaske her vor den Feuilletonrülpsern des vollgeschlemmten Kajütenbauches aus finnigem Ferkelchenmaul. Die religiösen Reiseredner fürs Hapag-Dessert. Die Antithetiker des Lebens: Zionisten aus Judenhass. Imperalisten aus barbarossaschem Humpenrittertum. Der ärmliche Passagierpublizist, der die Erde aufgeteilt hat nach Novellenmotiven, Romanstoffen, Journalbriefen, und zähneknirschend sie zeilenmessend absuchen muss, um amtlich nachweisbar überall seinen Bleistift aufgepflanzt zu haben. Die Exoten-Wippchen der nördlichen und südlichen Halbkugel. Und zuletzt die erlogenen Freunde, die mitgehen nicht für die Sache, nicht für den Geist als Unbedingte; sondern um, gut berechnet in der Gesellschaft der Zukunft gesehen zu werden; um der Gegenwart sich als Vermittlerpöstchen zu empfehlen![154]

Droschkenkutscher her, Strassenreiniger her, Steinsetzer her, Dienstmädchen her, Waschweiber her; Mob, Unterproletariat, Verzweifelte, Unorganisierte her, die nichts zu verlieren haben; Besitzlose, ganz Besitzlose her! Menschen her! Her zu uns, wir sind für Euch da! Die Zeit geht dem Ende entgegen. Einmal wird der himmlische Horizont wieder an die Erde stossen, und der Umkreis unserer Augen wird wieder den Glauben sehen, das Wissen von göttlichen Werten. Dann werden die, welche in Europa ihren Mund auch nur ein einziges Mal haben das Unrecht sprechen lassen, für immer in der Jauchegrube des Vergessens ersticken. Aber sie sind keine Gegner. Nur Mitläufer der vergangenen Zeit; Mitwürmer der Verwesung; Mitgerüche der Auflösung.

Wo ist unser Gegner, der Gegner? Ich vermisse den Teufel. Warum ist er nicht da? Der Inbegriff des Elementaren, zustossend Erlebnishaften, der geschleuderten Seele, des Isoliertseins! Der Inbegriff der Welt – gegen den Geist! Der Inbegriff des Einzeltums gegen die hohen, südlich lichtbauenden Bogen des Allgemeinen. Wo blieb der Teufel?

Aber der Teufel ist nicht mehr da. Er zerfloss, als wir ihn erkannten, als wir ihn benennen konnten; als wir aussprachen, dass nicht der Sturm, das Getriebene, das dämonische Element, das Wogen der Seele: dass nicht er menschenhaft sei, sondern der Geist. In unserm Kampf mit dem Engel wird zur selben Zeit auch gewirkt die Beschwörung des Teufels. In unserer neuen Zeit des Absoluten ist der Herr des Relativen nicht mehr Feind. Und von ihm blieben nur dünne, erstarrende Blutstropfen zurück: die Tänzer, Sänger, Schauspieler; die Künstler, die Reizbetäuber. Unwissend ihrer selbst, im Absterben. Der matte Bleichblut-Tod einer zusammengefallenen Luxuswelt.


*[155]


Ihr, die Ihr uns geistig Freund seid, Ihr könnt den Einzelnen nicht trennen von den wenigen Anständigen des heutigen Tages, von Kameraden, mit denen man sich nicht zufällig zusammenfand. Und wenn es mit rechten Dingen zugeht, dann werden wir Genossen die mitlaufenden Amtskandidaten überreden, das Amt fahren zu lassen, und sich um ihre ewige Seligkeit zu kümmern, die da ist: ihre Haltung vor dem Auge der Ewigkeit. Wenn es aber mit unrechten Dingen zugeht, dann müssen wir versuchen, sie recht zu machen. – Herodot:

»Lasst nichts unversucht!« – Und wenn sich herausstellt, dass jene bei unrechten Dingen verbleiben wollen, dass sie nur die Oberhand suchen, dass ihnen die Sache gleichgültig und nur der Streit wichtig ist; dass ihnen das Vergnügen künstlicher Schlussfolgerungen lieber ist als der Ruf der Menschlichkeit; dass sie nur blosse Themen behandeln (Schriftsteller), und nicht Handlungen vertreten; und dass sie auch nur über ihre Themen denken, schreiben, drucken, reden, ohne im geringsten ihren persönlichen Leib mit ihren Worten zu identifizieren . . . . . . . . Wenn also sich herausstellt, dass jene nur ruchlose Betrachter sind, anstatt Zeuger zu sein, – dann ist damit nur ein gravierender Beweis gegen uns selbst geliefert. Dann ist der Beweis geliefert, dass wir selbst nur zu vornehm, zu eitel, zu lau waren. Dass wir selbst nichts getan haben, um irgendeinen Menschen von der Würde des geistigen Lebens zu überzeugen. Dass wir nicht überzeugen, weil wir selbst kein Beispiel geben. Dass wir ohne persönliches Beispiel nicht Führer sein können. Und dass nur die Führer das Recht, die Fähigkeit und den Standpunkt zu einem Lebensurteil über andere haben (auch wenn sie darauf verzichten). – Ein Urteil, abgegeben aus Hochmut, ist gar nichts wert, es ändert nichts. Zwingend ist nur ein Urteil aus Liebe.

Die politischen Parteien haben für den Mann, der ihr Programmatiker[156] ist, einen wilden Ausdruck von der Rennbahn: sie nennen ihn »Einpeitscher«. Es kommt aber zuerst nicht darauf an, Meinungen einzupeitschen, sondern sie zu vertreten. Es kommt zuerst darauf an, seine Meinung selbst zu sein. Es gibt nur den öffentlichen Menschen. Entweder wir sind öffentliche Menschen – oder wiederum wird in den hundert Jahren alles niedergestampft, niedergeschossen, niedergebrannt, was wie bisher nur gelernt hat, die Person von der Sache zu trennen. Entweder wir sind öffentliche Menschen – oder wiederum hundert Jahre bleibt das geistige Leben, die Sache – ohne die Person – nur ein Zungenschlag, ein Demutsspiel für alte Damen. Entweder wir sind öffentliche Menschen– oder wir bleiben Suppenesser, Schläfer, Vergnügungsreisende mit verschmitzten Denkreservaten, und schliesslich Gerippe, deren Existenz nie über eine, von Komplikationen begleitete Stoffwechseltätigkeit hinaus gegangen ist.

Glauben wir aber: es gibt schon öffentliche Menschen! Es gibt schon Führer. Also wird es auch in allen Ländern der Erde bald mehr geben. Jeder Mensch ist geschaffen, ein Führer zu sein. Jeder Mensch ist unersetzlich. Der öffentliche Mensch kennt die Unersetzlichkeit des Bruders. Der öffentliche Mensch führt uns zum Leben im Geiste. Aber Leben im Geist ist zuerst Leben auf der Erde, wirkliches Leben, Lebendigsein im Fleisch. Und nur wenn wir zuerst selig sind über die Existenz des Nebenmenschen, werden wir dem Nebenmenschen Führer sein.

Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Mensch in der Mitte, Potsdam 21920, S. 152-157.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Mickiewicz, Adam

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz erzählt die Geschichte des Dorfes Soplicowo im 1811 zwischen Russland, Preußen und Österreich geteilten Polen. Im Streit um ein Schloß verfeinden sich zwei Adelsgeschlechter und Pan Tadeusz verliebt sich in Zosia. Das Nationalepos von Pan Tadeusz ist Pflichtlektüre in Polens Schulen und gilt nach der Bibel noch heute als meistgelesenes Buch.

266 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon