Die Heidenkapelle bei Belsen

[295] Es braust der Sturm, es stammt der Blitz,

Der Mutter fehlt ihr Kind,

Da geht sie aus in finstrer Nacht,

Im Regen und im Wind.


Sie pocht umsonst bei'm Nachbar an,

Sie geht von Haus zu Haus:

»Dein Kindlein ging im Sonnenschein

In's grüne Thal hinaus!«


Sie fragt den Hirten auf dem Feld,

Ob er sich nicht besinnt?

»Ja nach dem Berge wandelt' es,

Nicht kam zurück dein Kind!«


Sie geht hinaus in's dunkle Feld,

Der Donner schreckt sie nicht,

Sie freut sich auf der Blitze Stral,

Sie hat kein andres Licht.


»O zeiget mir den finstern Berg,

Lenkt mich in meiner Not,

Und scheinet mir mein Kindlein an,

Lebendig oder tot!«


Der Berg steht in dem Blitzesschein

Starr, daß es ist ein Graus;

Ein Vater, der sein Kind verlor,

Sieht nicht betrübter aus.


Und wieder hüllt ihn Dunkel ein,

Und wieder wird es hell;

Zu seinen Füßen ruhet grau

Die heidnische Kapell.


Sie stehet fest und hebt ihr Haupt

Als wie gebaut erst heut,

Ihr mißgestaltes Götzenbild,

Es grinset ungescheut.
[296]

»O weh, mein Kind, mein armes Kind,

Wenn du dich bärgest dort!

Wenn dich gepeitscht die Schreckennacht

In den verfluchten Ort!


Mein Kind muß opfern am Altar,

Es dient dem bösen Geist!

Fall' über mich, du bleicher Berg,

Der Erde Fugen, reißt!«


Die Mutter kommt zur runden Thür,

Die stehet offen stets,

Doch tritt zu ihr kein Wandrer ein

Und pfleget des Gebets.


Die Wolken sind geflohen fort,

Die Donner hallen aus,

Der Sternen und des Mondes Schein,

Der wandelt keck voraus.


Da faßt die Mutter sich ein Herz,

Sie geht zum Tempel ein –

Ihr süßes Kind ruht am Altar

Getrost im Mondenschein.


Es lächelt mit den Lippen bleich,

Wie man im Traume thut,

Und blinkend in halboffner Hand

Ein silbern Gröschlein ruht.


Kennt ihr der Engel Groschen nicht?

Sie geben ihn zu Pfand,

Wenn führen wollen sie ein Kind

Mit sich in's Vaterland.


Und mit dem Silber spielt das Kind

Bis Schlaf sein Auge deckt,

Und bis der Sterne Silberstrom

Das zugeschlossne weckt.
[297]

Die Mutter wirft sich auf die Knie,

Sie weinet still und lauscht,

Wie durch das alte Heidenhaus

Des Engels Flügel rauscht.


Sie küßt ihr Kind, es athmet nicht,

Es schläft ja schon so tief,

Bei seinem Hirten ist zu Haus

Das Lamm, das irre lief.

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 295-298.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Angelus Silesius

Cherubinischer Wandersmann

Cherubinischer Wandersmann

Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«

242 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon