Herzog Ulrich vor Neufen

[307] Müd vom Schlagen und vom Siegen

Zieht der Herzog durch sein Land,

Droben sieht er Neufen liegen

Auf der dräu'nden Felsenwand.

Heißer Strahl der Frühlingssonnen

Brennt auf Reiter und auf Roß –

»Wäre doch das Nest gewonnen!«

Ruft der Landgraf, sein Genoß.


Und so reiten sie die Stege

Durch den kühlen Wald hinauf;

Lauscht kein Hinterhalt im Wege?

Regnen keine Kugeln drauf?

Nein, es ist kein Feind zu spüren,

Alle Zinnen stehen leer,

Auf bequemen Brücken führen

Durch den Burgwall sie das Heer.


Aus dem Schlosse tönt entgegen

Ihnen nicht Geschützes Knall,

Sondern Priesters Wort und Segen,

Und ein heller Orgelschall.[307]

Und von mehr als Einer Schüssel

Süßer Dampf herüber weht,

Und der Burgvogt mit dem Schlüssel

Vor dem offnen Thore steht.


»Ritter Berthold, du Verwegner,

Sprich, was macht denn dich so zahm?

Du mein Feind und ew'ger Gegner,

Bist du worden blind und lahm?

Aber deine Blicke glänzen,

Wie kein blindes Auge glüht!

Und dein Haus schickt sich zu Tänzen,

Wie kein Lahmer drum sich müht!«


»Herr!« erwiedert ihm der Ritter,

Warf sich vor des Herzogs Fuß:

»Seid nicht Eurem Knechte bitter,

Nennt auch feig nicht seinen Gruß.

Mir ist heut ein Sohn geboren,

Meines Hauses erster Stern;

Wird mir der, hab' ich geschworen, –

Will ich huld'gen meinem Herrn.


In der Kirche, den zu taufen,

Stehet mir der Burgpfaff schon.

Seid Ihr nicht zu müd vom Raufen,

Werdet Pathen meinem Sohn!

Nicht vergessen solche Gnade

Wird der Vater und das Kind,

Die zu Neufens steilem Pfade

Hundert Jahr lang Wächter sind!«


Ei, gelegen kommt den Fürsten

Solche Ladung nach dem Kampf,

Die nach kühlem Weine dürsten,

Schielen nach der Schüsseln Dampf.

Und der Herzog reicht dem Degen

Freundlich die Versöhnungshand,

Schenkt dem Knaben seinen Segen,

Und ein schön Stück Ackerland.

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 307-308.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Ein Spätgeborner / Die Freiherren von Gemperlein. Zwei Erzählungen

Ein Spätgeborner / Die Freiherren von Gemperlein. Zwei Erzählungen

Die beiden »Freiherren von Gemperlein« machen reichlich komplizierte Pläne, in den Stand der Ehe zu treten und verlieben sich schließlich beide in dieselbe Frau, die zu allem Überfluss auch noch verheiratet ist. Die 1875 erschienene Künstlernovelle »Ein Spätgeborener« ist der erste Prosatext mit dem die Autorin jedenfalls eine gewisse Öffentlichkeit erreicht.

78 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon