Morgengemälde

[49] Feierlich erwacht der junge Morgen,

Blasser Sterne matter Glanz verglüht,

Hoch im lichterfüllten Aether singen

Lerchen-Chöre froh ihr Morgenlied.

Holder Jüngling! sey in deiner Schöne

Mir gegrüsst, o wonnevoller Tag!

Sieh! ich mische meine schwachen Töne

Hochentzückt in früher Lerchen Schlag.


Von der Nebel grauem Duft entschleiert,

Hebt der Wald sein frisches Haupt empor;

Weihrauch wallet von den grünen Locken,

Seinem Schoos entschwebt der Sänger Chor;

Lust und Leben strömt durch bunte Felder,

Bienen schwärmen summend auf dem Klee,

Munter eilt der Hirsch durch grüne Wälder,

Die Forelle tanzt auf stillem See!
[50]

In der Morgenröthe lichten Farben

Schwimmt des Himmels leichtgewölkter Saum;

Rosig malet sie die weiten Fluren,

Purpur streut sie in des Meeres Schaum,

Tanzend hüpft sie in der lauten Quelle,

Deren Silberstrom vom Felsen fliesst,

Freundlich äugelt sie in jeder Welle,

Jedes Blümchen wird von ihr gegrüsst!


Wie ein Gott im lichtumflossnen Glanze,

Fährt auf Feuer-Wagen Phöbus her,

Seine Augen flammen in den Wolken,

Seine Stralen kühlen sich im Meer;

Alles blitzt und glänzt in seinen Gluten,

Licht und Segen wallen vor ihm hin,

In des Goldstroms malerische Fluten

Taucht der Wald der Wipfel zartes Grün.


Auf den leichten blüthenvollen Zweigen

Wieget sich, von Frühlingsduft umringt,

Philomele, die des Tages Hymne

Zaubervoll mit süssen Tönen singt;

Aus der schwachen zartgeschaffnen Kehle

Tönt die vollste, reinste Harmonie;

Welch Entzücken giebt der weichen Seele,

Die ihr lauscht, des Herzens Sympathie!
[51]

Welch ein Meer von süssen Wohlgerüchen

Dampft empor von bunter Blumen-Au,

Goldne Perlen zittern in den Kelchen,

Bräutlich schmückt die Flur der junge Thau;

Schmeichelnd von den Lüften fortgezogen,

Flieht die Saat im leichten Nymphen-Tanz,

Ihre luft'gen dunkelblauen Wogen

Krönt ein reicher goldner Aehren-Kranz.


Welch ein warmes wonnevolles Leben

Waltet in der grossen Harmonie,

Wie vergöttert sich des Morgens Schöne

In der allgemeinen Melodie;

Hebt die trunkne Seele vom Getümmel

Den entzückten Geist zu höherm Flug,

Den der neuen Sonne schönerm Himmel

Kühn die Phantasie entgegen trug!

Quelle:
Elise Sommer: Gedichte, Frankfurt a.M. 1813, S. 49-52.
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