|
[4] 1.
Die reine Stirn der Morgenröth
War nie so fast gezieret/
Der Frühling nach dem Winter öd
War nie so schön muntiret/
Die weiche brust der Schwanen weiß
War nie so wohl gebleichet/
Die gülden Pfeil der Sonnen heiß
Nie so mit glantz bereichet:
2.
Alß Jesu Wangen/ stirn/ vnd mundt
Mit gnad sein vbergossen;
Lieb hat auß seinen äuglein rundt
Fast tausent Pfeil verschossen;
Hat mir mein Hertz verwundet sehr/
O wee der süssen peine!
Für Lieb ich kaum kan rasten mehr/
Ohn vnderlaß Ich weine.
3.
Wie Perlen klar auß Orient
Mir Zähr von Augen schiessen:
Wie Rosenwässer wolgebrent
Mir Thränen vberfliessen.[5]
O keusche Lieb/ Cupido rein/
Alda dein hitz erkühle;
Da dunck dein heisse flüttig ein/
Daß dich so starck nit fühle.
4.
Zu scharpff ist mir dein heisser brand/
Zu schnell seind deine Flügel:
Drumb nur auß Zähren mit verstand
Dir flechte Zaum vnd Zügel.
Kom nit so streng/ mich nit verseng:
Nit brenn mich gar zu Kohlen;
Halt zihl vnd maß/ dich weisen laß/
Dich brauch der linden stralen.
5.
O Arm vnd Hände JESV weiß/
Ihr Schwesterlein der Schwanen/
Vmbfasset mich nit lind/ noch leiß/
Darff euch der griff ermahnen.
Starck hefftet mich an seine Brust/
Vnd satt mich lasset weinen:
Ich ihn erweich/ ist mir bewust/
Vnd wär daß Hertz von steinen.
6.
O JEsu mein/ du schöner Heldt
Lang warten macht verdriessen:
Groß lieb mir nach dem leben stelt/
Wan soll ich dein geniessen?[6]
O süsse Brust! O Frewd vnd Lust!
Hast endtlich mich gezogen:
O miltes Hertz!
All pein vnd schmertz
Ist nun in Wind geflogen.
7.
Alhie wil ich nun rasten lind/
Auff JESV brust gebunden:
Alhie mag mich Cupido blind
Biß gar zu todt verwunden.
Am Hertzen JESV sterben hinn/
Ist nur in lüsten leben;
Ist nur verlieren mit gewinn/
Ist todt im leben schweben.
Ausgewählte Ausgaben von
Trutznachtigall
|
Buchempfehlung
Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«
242 Seiten, 11.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro